Mondscheinwalzer
von Pearlette, übersetzt von Cúthalion

29. Januar 2009

Ruta und Stephen stehen auf einem kleinen Hügel unterhalb von silbergestreiften Birken und schauen hinab auf den gefrorenen See. Ihr Atem bildet Wolken in der Luft. Dick in warme Umhänge gehüllt, schmiegen sie sich aneinander, Seite an Seite.

Hinter ihnen ragt die riesige, dunkle Masse von Hogwarts auf; die schmalen Fenster der Großen Halle bilden leuchtend goldene Rechtecke. Obwohl die Stille der Nacht scharf und prickelnd ist, stellt Ruta sich vor, dass sie das aufgeregte Geplauder der Schüler herüber wehen hört, und dass sie das warme Glühen der Halle spürt, während die Kinder sich zum Abendessen niederlassen. 

Heute Abend hat sie frei. Sie und ihr Mann haben sich um außerschulische Angelegenheiten zu kümmern.

So wie das hier. Den Mond beobachten.

Sie trinken den Anblick in sich hinein, der sich vor ihnen ausbreitet. Der See ist ein vollkommener, polierter Spiegel aus Eis, geisterhaft von dem Licht erhellt, das aus dem Himmel herabfällt. Dort, über ihnen, befindet sich das Wunder, die Quelle des Lichts: die Sichel des Mondes, wie ein silbernes Lächeln in der samtigen Nacht, ganz dicht am frostig weißen Kristall der Venus.

Ruta seufzte zufrieden.

"Also das war es wert, in diese Eiseskälte hinauszukommen!"

Stephen gönnt ihr ein knappes Lächeln.

"Diese spezielle Zusammentreffen ist eine regelmäßige Erscheinung, aber deswegen ist es nicht weniger eindrucksvoll."

"Es ist wunderschön," haucht Ruta. Sie merkt, dass ihre Augen leuchten, als wäre sie ein Kind. 

Wie das Leuchten in Teddys Augen, dessen Haar von Orange zu Türkis hinüberflammt, während er Onkel Harry zuschaut, der einen Patronus erzeugt. Wie die Augen der kleinen Lily Potter, als ihre molligen Finger nach der  weichen, nachgiebigen Flickenpuppe greifen, die ihr Tante Ruta an ihrem ersten Geburtstag geschenkt hat. Wie die Augen des kleinen Phillip Stockton, als er in dieser Woche zehn Punkte in Kräuterkunde bekommt und nur zwei Tage später in der Zaubertrankstunde seinen ersten Trunk des Friedens braut.

In gewisser Weise sind sie alle Rutas Kinder. Sie hat mit dem alten Stich zu leben gelernt, dass sie keine eigenen hat. Sie hat Stephen, und das ist genug, Nein: es ist mehr als genug.

Sie wirft ihm einen Seitenblick zu. Sein Profil ist halb unter der Kapuze verborgen, aber sie kann sehen, dass sich Fältchen um seine tiefliegenden Augen kräuseln, und dass sein großzügiger, sinnlicher Mund - so verschieden von den schmalen Lippen, den er einmal besessen hat - sich zu diesem kleinen, vertrauten, leicht spöttischen Lächeln verzieht. Die Form seines Mundes mag sich geändert haben, das Lächeln aber hat es nie getan.

"Lachst du mich aus?" fragte sie; es ist halb Schelte und halb Neckerei.

Er schüttelt den Kopf, und graue Locken schwingen unter seiner Kapuze hin und her.

"Überhaupt nicht, mein Gnadenkraut. Möge keiner von uns jemals die Fähigkeit zum Staunen verlieren."

Ruta gluckst. Das ist ihr Stephen; jedes Wort präzise abgezirkelt und gedankenvoll, beinahe oberlehrerhaft, als gäbe er eine Stunde Unterricht. Ihr Herz füllt sich mit einer Wärme wie von Wein. Sie liebt ihn so sehr. Sie möchte nicht, dass er sich jemals ändert. Er hat ohnehin schon genügend schmerzhafte Veränderungen durchgemacht.

Sie lässt ihre Hand in die seine gleiten.

"Ich muss dir zeigen, was mir Hermine auf ihrem Muggelcomputer geschickt hat," sagt sie. "Sie hat all diese Informationen über die NASA für mich herunter geladen, damit ich sie mir ansehen kann - absolut wunderbare Photographien, Stephen, wir können sie uns später gemeinsam anschauen. Absolut erstaunliches Zeug, die Milchstraße und ferne Galaxien und Nahaufnahmen von den Planeten in unserem eigenen Sonnensystem... Natürlich bewegen Muggelphotos sich nicht, das ist der einzige Nachteil. Und unsere Zentauren in Hogwarts wussten alles über diese Konstellation - sie sind ganz genauso verlässlich wie irgendwelche Muggelnachrichten! Aber meine Güte... was für kraftvolle Teleskope die Muggel haben, dass sie Photos so weit entfernt im Weltall machen können..."

"Muggel-Sternenkunde scheint extrem fortgeschritten zu sein; sie  überschattet sogar die uralte Weisheit der Zentauren," bemerkt Stephen (Es ist ein Zeichen seines neu erworbenen Wissens über die Welt der Muggel, dass er Ruta nicht fragen muss, was die NASA ist).

"Sollte man meinen," sagt Ruta zustimmend, "Wir können nicht gerade irgendwelche Zauberer benennen, die auf dem Mond gewandert sind, oder?"

"Das ist wahr," sagt er gelassen. "In vielerlei Weise ist die Welt der Muggel -  besonders ihr wissenschaftliches Können - viel weiter fortgeschritten als das unsere Und doch..." Sein Mund kräuselt sich. "... und doch besitzen wir Kräfte, die ihnen für immer verschlossen bleiben."

"Das scheint mir ein fairer Tausch zu sein," sagt Ruta nachdenklich. "Sie haben große, wissenschaftliche Fähigkeiten und Technologien entwickelt, wir haben unsere riesigen Reserven an Zauberei. Ich würde es nicht anders haben wollen. Ein Leben ohne Zauberei kann ich mir nicht vorstellen."

"Nein, tatsächlich nicht. Und das bringt mich dazu... was für eine Art Zauberei würdest du gern heute Nacht sehen, mein Gnadenkraut?"

Ehe sie auch nur über ihre Antwort nachdenken kann, zieht er sie rasch und fest in eine enge Umarmung hinein; er schlingt seinen dunklen Winterumhang um sie beide, und...

Luft rauscht, und sie fliegen.

Sie fliegen. Langsam kreiseln sie aufwärts und vorwärts; Ruta schreit auf und klammert sich an Stephens Schultern. Ihre Finger krallen sich in den dicken Stoff seines Mantels... sie beschreiben einen sauberen Kreis, bis sie ruckartig auf der Oberfläche des Sees landen und Ruta spürt, wie ihre Stiefel über das Eis kratzen.

Ja, ihre Stiefel kratzen über das Eis... ihre robusten Muggel-Wanderstiefel (ein Geschenk von Hermine) haben sich in Schlittschuhe verwandelt, und die scharfen Kufen schneiden in das Eis und halten sie in perfekter Positur dicht an Stephens hoch gewachsener, schlanker Gestalt, während er sie beide mit einem Haltezauber stützt... elegant aneinander geschmiegt können sie nicht fallen, getragen von der Macht der Zauberei. Seiner Zauberei.

Sie schlägt ihm sanft mit der Faust gegen die Brust.

"Wie hast du das gemacht?" ruft sie aus. "Ein Flugzauber, eine Verwandlung und ein Haltezauber, und all das  gleichzeitig? Ohne Zauberstab und ohne ein Wort? Du durchtriebener..."

Er legt ihr einen Finger unter das Kinn und hebt es an. Seine normalerweise grauen Augen wirken fast schwarz - so dunkel, wie sie einst gewesen sind.

"Nun, meine Liebe..." Seine samtweiche Stímme zieht sie auf. "Siehst du, ich bin ein Zauberer."

Ruta schnaubt vor Lachen und vergräbt ihr Gesicht in der Wolle seines Umhangs.

"Also ehrlich. Was für andere Tricks hast du noch im Ärmel?"

"Ah," sagt Stephen. Sein Arm schlingt sich um Rutas Taille, und er leitet sie gekonnt in eine rasche, anmutige, gleitende Bewegung hinein; ihr Körper neigt sich gegen den seinen und sie begreift, dass sie tanzen. Sie tanzen einen langsamen, behutsamen Walzer auf dem Eis.

Es ist nicht nötig, dass sie sich daran erinnert, wie die Schritte gehen, falls sie sie tatsächlich jemals gekannt hat: Stephen kennt sie, und er führt sie alle beide ohne jede Mühe. Ihr Körper bewegt sich weich an seinem, nicht willenlos, sondern als wäre sie eingeladen, Teil eines Tanzes zu sein, der bereits rings um sie her stattfindet... die Bewegung des Mondes und der Sterne am Himmel, der langsame Walzer der Planeten durch das All.

Um sie herum liegen glitzerndes Eis und schimmernder Schnee und tintenschwarze Schatten im Mondlicht. Sie tanzen gemächlich quer über den leuchtenden See, ein hochgewachsener Zauberer in mittleren Jahren und seine jüngere Frau, zwei einsame Silhouetten, die mit vollkommener Grazie Achter und Kreise beschreiben, während die Kufen ihrer Schlittschuhe verwickelte Muster in das Eis schnitzen.

Alles, was Ruta in der froststechenden Luft fühlen kann ist seine Nähe und seine Wärme, und wie sicher und warm sie sich fühlt. Sie schließt die Augen und schmilzt in den Rhythmus des Walzers hinein, erlaubt dem Tanz, sie zu besitzen, eng an Stephen gepresst. Sie atmet den schweren, weichen, üppigen Duft seines Wollumhangs ein und sie spürt ihn schlank, hart und solide an ihrem Leib.

Alles, was sie wahrnimmt, ist die Bewegung des Tanzes, ihr Körper, der sich ihm beugt und das Gewicht seines Umhang, der im Rhythmus mitschwingt... es ist mehr ein Dahintreiben als ein Tanz. Sie spürt kaum, wie die Schlittschuhe in das Eis schneiden.

 Endlich hört die Welt auf, sich um sie zu drehen, während sie sanft gleitend zum Stehen kommen und einmal mehr in einer vollkommenen Pose auf dem Eis innehalten.

Rutas Wange lehnt an der von Stephen. Sie fühlt, wie seine große Hand die leuchtenden Strähnen aus haselnussbraunem Haar streichelt, die sich aus der Beschränkung ihrer Kapuze gestohlen haben.

Sie langt nach oben und liebkost sein Gesicht.

"Sie sind ein ziemlich guter Eisläufer, Mr. Seeker," sagt sie leise. "Wenn wir über verborgene Talente reden."

Sein Gesicht ist undurchdringlich, aber seine Augen glänzen dunkel.

"Ich hatte die perfekte Partnerin für einen Eistanz, mein Liebes."

Sie flüstert. "Lass uns nach Hause gehen."

Der Glanz in seinen Augen vertieft sich.

Ruta grinst verschmitzt.

"Wir können ja dort... weitertanzen."

*****

Das Feuer knistert auf dem Kaminrost. Ruta und Stephen liegen zusammen in einem Nest aus Kissen und zerknitterten Decken, nackt und gesättigt. Zwei Gläser Wein - rot wie Blut - stehen auf dem Nachttisch.

Ruta gibt eine langen Seufzer von sich und starrt hinauf zur Decke; ihr üppiges, braunes Haar breitet sich über das Kissen. Stephen beobachtet sie, auf den Ellbogen gestützt, und seine langen Finger liebkosen ihren Arm in einem sanften, beruhigenden Rhythmus.

Im Hintergrund erklingt die Stimme einer Frau über den sprudelnden Noten einer Sitar... eine von Rutas Lieblingsaufnahmen, "Die Stunde des Lotus", gesungen und gespielt von einer indischen Hexe namens Amita Santhanam. Die sehnsüchtigen Melodien weben einen verführerischen Zauber, die Musik ist süß und fließend wie Wasser.

Selbstentzündende Aromakerzen leuchten wie winzige Goldmünzen rings um das Schlafzimmer und verströmen einen köstlichen Duft nach Jasmin und Salbei. Anders als ihre Äquivalente in der Muggelwelt gibt es keine Gefahr, dass sie schmelzen und die Möbel in Brand setzen.

"Bloß gut, dass Winky nicht hier ist," murmelt Ruta. "Sie wäre wahrscheinlich ein bisschen schockiert, dass der Herr und die Herrin sich schon so früh am Abend ins Bett zurückziehen."

Gelächter rumpelt in Stephens Brust.

"In der Tat," sagt er, und seine Lippen kräuseln sich. "Ich hoffe, sie hat Spaß am Fest der Hauselfen oben in der Schule."

"Ich bin sicher, wir hören morgen alles darüber, Liebster. Jede noch so kleine Einzelheit."

"Hm," sagt er abwesend. Seine Stirn ist leicht gerunzelt.

Ruta versteht. Manchmal wird sein Gesichtausdruck so abwesend, als würde er über Dinge nachdenken, die längst vergangen sind... und als könnte er sein gegenwärtiges Glück noch nicht so recht fassen.

Irgendwie begreift sie sein gelegentliches Bedürfnis jedes Mal... danach, sich zurückzuziehen, danach, allein zu sein. Es dauert nie lange. Er kommt immer zu ihr zurück.

Sie gestattet ihrem Blick, bewundernd seinen langen, schlanken, nackten Körper hinunter zu wandern. In den Augen der meisten Leute wäre er nicht gutaussehend, nicht einmal in seiner neuen und dauerhaften Gestalt, aber sie hat sich nie auch nur einen Pfennig um bloßes Aussehen geschert - nicht damals, und jetzt auch nicht. Sie hat gelernt, seine krumme Nase und das scharfe, wachsame Gesicht zu lieben, als er noch Severus Snape war, und sie liebt ihn jetzt... ihren weisen, grauäugigen, unergründlichen Zauberer mit seiner schrecklichen Vergangenheit, den langen Jahren der Einsamkeit, die er ertragen hat, mit der so hart errungenen inneren Demut... und mit seiner leidenschaftlichen, einzigartigen Liebe zu ihr.

Sie dankt Merlin und allen Mächten im Himmel und auf Erden, dass sein neuer Leib keine Narben trägt. dass es keine furchtbare, vielsagende Wunde mehr gibt an seinem Hals. Die Spuren des alten, fast tödlichen Schlangenbisses sind für immer ausgelöscht worden, dank der dauerhaften Verwandlung, der er sich unterzogen hat.

"Stephen," murmelt sie leise.

Sein Blick richtet sich sofort auf sie, intensiv und konzentriert.

"Ich liebe dich," sagt Ruta schlicht.

Sie sagt es nicht oft.

Zwischen ihnen schimmert die Stille, Die goldenen Schatten der Flammen tanzen auf seinem Gesicht.

Er holt tief Atem.

"Ich liebe dich auch... mein Gnadenkraut."

Auch er sagt es nicht oft.

Sie streckt die Hände nach ihm aus, zieht ihn hinunter und an sich. Er seufzt tief, legt den Kopf an ihre Brust und entspannt sich an ihrem Körper, ganz unerwartet und eigenartig verletzlich. Er ist sonst ein so beherrschter Mann. Sie legt die Arme um ihn und drückt ihre Lippen in sein Haar.

"Danke," flüstert sie, "dass du mich den Mondscheinwalzer gelehrt hast."

Er murmelt an ihrer Haut. "Der Mond bedeutet jetzt keinen Schrecken mehr für dich."

"Der Mund ist zu meiner Erlösung geworden," sagt Ruta. "Genau wie du."

Er gibt einen kleinen Laut von sich, belustigt und spöttisch.

"Es ist wahr, Severus," (Auch diesen Namen benutzt sie ihm gegenüber nicht oft.) "Wir haben uns gegenseitig gerettet."

"Ja." Seine Stimme ist sanft, nachdenklich... ein wenig traurig.

Ruta braucht keine Legilimentik anwenden (sie ist ziemlich gut geworden darin, dank seiner geduldigen Anleitung), um zu erraten, in welche Richtung seine Gedanken gehen.

"Denkst du jemals noch an... sie?"

Eine lange Pause.

"Nur sehr gelegentlich, Ruta." Seine Stimme hat zu ihrer üblichen Knappheit zurückgefunden. "Sie ist nicht mehr als eine lang vergangene Erinnerung. Eine wirbelnde Silbersträhne in einem Denkarium. Eine junge Frau, die - ebenso wie ihr Mann - brutal ausgelöscht wurde..." Die Kontrolle über seine Stimme gerät leicht ins Schwanken... "... der katastrophalen Entscheidungen eines unreifen, jungen Idioten wegen, der sich von den ruhmreichen Vorspiegelungen der Todesser verführen ließ."

Eine weitere Pause.

"Sie lebt weiter, natürlich - in ihrem ausgezeichneten Sohn und ihren mit lächerlichen Namen geschlagenen Enkelkindern."

Ruta lächelt in sein Haar hinein.

"Weißt du, Harry besucht das Grab jedes Jahr einmal," sagt sie leise. "Vielleicht sollten wir das eines Tages auch machen."

"Ich würde es gern tun." Seine Stimme ist sorgsam leidenschaftslos.

Ruta seufzt, und ihre Umarmung wird fester.

"Genug Gerede über die Vergangenheit," flüstert sie. "Es tut mir Leid."

"Das ist nicht nötig."

Er dreht sich um und schaut zu ihr hoch. Seine grauen Augen sind bodenlos tief.

"Die Vergangenheit ist, was sie ist, mein Gnadenkraut. Lass und das Beste aus der Gegenwart machen."

"Oh ja, Stephen."

Sie küsst ihn, Er erwidert den Kuss, vertieft ihn.

Oh ja... Ihre Gedanken überstürzen sich wie im Traum, während sein Leib sich gegen den ihren drängt und sie einmal mehr miteinander verschmelzen, wir müssen das Beste aus der Gegenwart machen, jeden Tag.

Immer.

Während sie sich umarmen, setzt sich der ewige Tanz der Sterne fort. Über dem Dorf Hogsmeade taucht der silberne Bogen des abnehmenden Mondes - ein sanfter Mond, der keinen Schrecken bereithält - hinab zum Horizont.


FINIS

Top          Harry-Potter-Stories          Home