Erinnerungen an Sarah
von Cúthalion

Mein Name ist Emmet Dutton – Sir Emmet, Baron von Dutton müsste es heißen, wenn mein Bruder Anthony nicht das Glück gehabt hätte, zwei Jahre vor mir geboren zu werden. Ich bin das stolze (wenn auch hoffnungslos überzüchtete) Produkt einer britischen Familie, die ihre Vorfahren bis zu Piers Dutton zurückverfolgen kann, einem Mann, dessen hauptsächliche Errungenschaft (abgesehen davon, gerade einmal zwei Jahre Bürgermeister von Chester gewesen zu sein) darin bestand, dass er 1527 von Heinrich dem Achten zum Ritter geschlagen wurde. In der Gunst seines Herrschers zu stehen brachte ihm allerdings eine ziemlich befriedigende Menge Geld und Ländereien ein, und seine Nachkommen behielten beides liebevoll und fürsorglich im Auge. Auf diese Weise war es meinem Bruder möglich, ein komfortables Leben auf Dutton Manor zu führen; er heiratete die Ehrenwerte Sarah Sherbourne und fügte unserem weit verzweigten Familienstammbaum drei Söhne hinzu.

Ich wählte die Karriere als Soldat im Dienst für König und Vaterland – wie es von einem zweiten Sohn erwartet wurde – und verbrachte ein paar erfolgreiche Jahre auf dem Royal Military College, bevor ich erst nach Kenia und dann nach Bombay und Delhi geschickt wurde. Ich verliebte mich auf der Stelle in die jubelnden, sonnenglühenden Farben Indiens und verschrieb mich für die nächsten zehn Jahre dem Juwel der Krone; ich würde wohl den Rest meines aktiven Dienstes dort verbracht haben, wenn ich nicht die Abrechnungen eines direkten Vorgesetzten in Frage gestellt hätte. Die Tinte auf meiner Ernennung zum Captain und Versorgungsoffizier war noch nicht einmal trocken und ich hatte meinen Posten gerade erst angetreten, als ich herausfand, dass der besagte Vorgesetzte über Jahre hinweg eine schockierende Anzahl der Vorräte, die für seine Männer bestimmt waren, beiseite geschafft und zu Geld gemacht hatte.

Ich ignorierte seine subtilen Andeutungen ebenso wie ein halbes Dutzend Bestechungsversuche - und endlich seine offene Drohung, mich „ernsthaft in Schwierigkeiten zu bringen“ - und schrieb einen detaillierten Bericht. Zu meinem Pech hatte der Mann Verbindungen in die höchsten Ränge der Britischen Armee in Indien, war ein Cousin der Frau des Vizekönigs und legte einen gesunden Rachedurst an den Tag.

Und so war ich mit achtunddreißig Jahren gezwungen, Indien zu verlassen; ich fand mich in der elendsten Ecke der Welt wieder, die ich mir vorstellen konnte – Australien. Es war nicht Van Diemen's Land, aber schlimm genug für einen Mann, dessen Ambitionen immer ganz woanders gelegen hatten. Ich hasste das Nördliche Territorium mit leidenschaftlicher Intensität, und die sogenannten „feinen Herrschaften“ von Darwin waren nicht dazu angetan, meine Meinung zu ändern. Ich war in eine soziale Schicht mit tief verwurzelter, engstirniger Arroganz hinein geboren worden – aber die Leute an diesem gottverlassenen Ort ließ meine Familie unglaublich liberal und progressiv aussehen. Händler und Emporkömmlinge waren das, die sich an die starren Regeln der englischen Gesellschaft klammerten und auf brutale Weise jeden ausschlossen, der sich nicht anpassen konnte oder wollte.

Wie gesagt, ich kannte diese Vorurteile und den hochnäsigen Snobismus in und auswendig – was nicht heißen soll, dass ich sie teilte. Ich war immer sehr an fremden Kulturen interessiert gewesen – einer der Gründe, weshalb ich Indien so heftig verfiel. Ich studierte jahrelang die indische Kultur, und es war immer meine tiefste Überzeugung, dass der Alptraum des Sepoy-Aufstandes eine direkte Folge tief verwurzelter, rassistischer Vorurteile war, und verbrecherischer Gleichgültigkeit einem Volk gegenüber, von dem die britische Regierung fälschlicherweise behauptete, sie würde es mit Vernunft und Weisheit regieren. Als ich Bombay 1937 verließ, konnte ich die Schrift der Veränderung an der Wand bereits erkennen, obwohl viele meiner Kameraden und die meisten meiner Vorgesetzten stur darauf beharrten, den Blick abzuwenden. Seitdem hatte ich zwei Jahre in Australien zugebracht und dort die selbe Blindheit vorgefunden. Ich entschied mich, diese anhaltende Plage zu ignorieren, weil es weit dringlichere Angelegenheiten gab, um die ich mich zu kümmern hatte. Ich war zu jung gewesen, um im ersten großen Krieg dieses Jahrhunderts zu kämpfen, aber der nächste verfinsterte bereits den Horizont. Vorräte mussten beschafft und Truppen ernährt werden, und Essen für Tausende Soldaten zu sammeln war eine Mammutaufgabe, die ausreichte, mich beschäftigt zu halten und mir ständige Kopfschmerzen zu machen.

Teil meiner persönlichen Kümmernisse war Leslie „King“ Carney – natürlich. Wenn jemand zutreffenderweise „Rinderbaron“ genannt werden konnte, dann war es Carney. Er hatte selbst etwas von einem stolzen Zuchtbullen an sich – einer, der seine Herden um sich sammelte und der felsenfesten Überzeugung war, dass jedes Pfund sorgsam gemästetes Rindfleisch im Nördlichen Territorium ihm gehörte, und dass es allein ihm zustand, daraus Profit zu schlagen.

Was selbstverständlich der Grund war, dass Faraway Downs einen solchen Stachel in seinem Fleisch darstellte.

Ich begegnete dem Besitzer dieser Farm kurz vor Weihnachten 1938, während einem jener unsäglichen Nachmittagstees von Ethel Allsop, der Frau des britischen Gouverneurs. Ich stand am Fenster und schaute hinaus auf die Bucht, als sie in meine Richtung segelte, mit einem Tablett voller Gebäck bewaffnet. Ich wusste, dass die Sache - sollte ich ihr gestatten, mich mit ihren Éclairs voll zu stopfen – damit enden würde, dass mir die Zunge durch eine Überdosis Zuckerguss am Gaumen klebte. Also drehte ich mich so rasch wie möglich um, bahnte mir einen Weg durch die schwatzende Menge – und rannte in einen Mann von mittlerer Größe hinein, mit rötlich blondem Haar, blassblauen Augen und der empfindlichen Haut, die man so oft bei den Nachfahren der Angelsachsen von Albion findet. Unsere Blicke begegneten sich, und er grinste plötzlich.

„Auf der Flucht vor Mrs. Allsops Qualitäten als Gastgeberin?“ sagte er, dann nahm er mich ohne viel Federlesens am Ellbogen und zog mich durch eine Seitentür in ein leeres Wohnzimmer. Es war himmlisch kühl und still, verglichen mit dem überfüllten, schwülwarmen Salon, und ich ließ mich mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung auf eine große, lederne Ottomane fallen. Mein unbekannter Retter setzte sich neben mich, zog eine silberne Flasche aus der Brusttasche und hielt sie mir hin. Der himmlische Duft von Macallan Single Malt kitzelte mir die Nase, und ich gönnte mir einen segensreichen Schluck. Er nahm die Flasche mit der Linken zurück und streckte mir die Rechte entgegen.

„Maitland Ashley,“ sagte er. „Von Ashlight Hall. Und von Faraway Downs, im Augenblick jedenfalls.“

„Captain Emmet Dutton, 19. Infanteriebrigade, Versorgungsoffizier der Armee Seiner Majestät im Nördlichen Territorium,“ erwiderte ich. „Was meinen Sie mit ,im Augenblick jedenfalls', Lord Ashley? So lange, bis Carney Ihnen genügend Banknoten unter die Nase hält, damit Sie ihre Farm verkaufen?“ Ich betrachtete sein kaum gebräuntes Gesicht. „Natürlich würde ihm das die Möglichkeit verschaffen, diesen ärgerlichen weißen Fleck von seiner Landkarte zu tilgen.“

„Natürlich,“ stimmte er zu; seine Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das eher einer Grimasse glich. „Aber er wird lernen müssen, mit meiner Anwesenheit zu leben, denn ich werde nicht zulassen, dass er Faraway Downs zu seiner größten Trophäe macht. Ich habe ein Angebot für Sie, Captain Dutton.“

Ich lehnte mich zurück; der Macallan glühte mir angenehm im Magen. „Ich bin ganz Ohr.“

Und so erfuhr ich alles über die Viehherde, die er während der letzten drei Jahre gezüchtet hatte; fünfzehnhundert Bullen, Kühe und Kälber... hervorragende Neuigkeiten, und der Preis pro Tier war mehr als vernünftig. Er erzählte mir nicht, wie sehr er auf dieses Geld angewiesen war, um seine Farm zu retten, und er sagte nichts über das geheimnisvolle Schwinden seines Viehbestandes. Aus heutiger Sicht vermute ich, dass er wahrscheinlich keine Ahnung davon hatte, was sich wirklich auf Faraway Downs abspielte.

An jenem Nachmittag lud er mich ein, mit ihm Weihnachten zu feiern, aber die verspätete Ankunft eines Schiffes mit Vorräten hielt mich in Darwin auf. Ich sah ihn Anfang Januar; er war zuversichtlich und beinahe euphorisch, und wir verbrachten einen ziemlich lebhaften Abend in der Offiziersmesse des Regiments. Ich begegnete ihm noch einmal Ende Januar, als er eine hastige Serie Telegramme an seine Frau abschickte; sie war offensichtlich wild entschlossen, ihn dazu zu bringen, dass er sich sowohl von der Farm als auch von dem Vieh trennte. Sie hatte die erklärte Absicht, nach Australien zu fliegen und ihren Willen durchzusetzen.

„Sarah, mein Liebling,“ sagte Maitland, als er über sie sprach, und in seiner Stimme hörte ich Anbetung und eine Art hilfloser Belustigung. Aber als er mir ein Photo von ihr zeigen wollte, stellte sich heraus, dass er es zuhause vergessen hatte. Zwei Tage später verschwand er wieder in der Leere des Nördlichen Territoriums, und das war das letzte Mal, dass ich ihn jemals zu Gesicht bekam.

Ich glaube, wir wären Freunde geworden, wenn er nur ein wenig länger gelebt hätte.

*****

Der Tag, an dem Maitlands Frau in Darwin eintraf, ging geradewegs in die Legenden ein. Nicht wegen dieser dummen Prügelei auf der Straße vor Ivan Rolevs trauriger Ausrede von einem Hotel, natürlich... obwohl sie wild genug war, dass sie noch monatelang für Gesprächsstoff sorgte. Ich habe diese Sorte öffentlicher Auseinandersetzungen nie geschätzt, aber selbst ich begriff, wieso die Leute über zerschmettertes Gepäck lachen konnten, und über Unaussprechliche, die durch die Luft segelten wie ein Schwarm verrückter Vögel. Selbst dann, wenn es sich um die Unaussprechlichen von Sarah Ashley handelte.

Ich selbst erinnere mich an nicht gerade viel von dieser Prügelei, und sogar noch weniger an den Klatsch, der sich danach erhob. Das deutlichste, fast schmerzhaft scharfe Bild, das ich von diesem Tag im Gedächtnis habe, ist der Blick durch Gouverneur Allsops berüchtigtes Fernrohr. Wir befanden uns mitten in einer hitzigen Diskussion über Vieh im Allgemeinen und „King“ Carneys Würgegriff um das Fleischgeschäft im Besonderen, als Sarah Ashley auf einer Barke vom Flugboot zum Anleger gerudert wurde. Allsop spähte durch sein Fernrohr und hätte beinahe durch die Zähne gepfiffen. „Sie ist ein richtig heißer Feger...“ sagte er, und ich muss zu meiner größten Schande gestehen, dass meine Neugier groß genug war, mich ebenfalls einen Blick riskieren zu lassen.

Sie war gertenschlank, fast zerbrechlich; ihre zarte Porzellanhaut wurde von einem kecken Hütchen und einem eleganten Sonnenschirm geschützt, den sie fest in der behandschuhten Hand hielt. Ich konnte ihr Profil sehen, eine Studie in Marmor. Stolz strahlte von ihr aus und der eiserne Wille, sich den Umständen nicht zu unterwerfen, die das Schicksal – und ihr verantwortungsloser Ehemann – ihr aufgezwungen hatten. Sie war großartig.

Ich trat von dem Fernrohr zurück und schluckte nervös; plötzlich und unerklärlicherweise fühlte ich mich wie ein Voyeur übelster Sorte. Ich drängte die Irritation über mein eigenes Benehmen in den hintersten Winkel meines Geistes zurück und zwang mich, wieder an das gegenwärtige Problem zu denken. Wenn diese gestrenge, englische Rose ihren Mann dazu brachte, die Farm an Carney zu verkaufen, dann würde der gerissene, alte Schurke endlich imstande sein, den Markt zu diktieren. Und sie sah nicht so aus, als sei ihre Position leicht zu erschüttern.

Ich traf sie an diesem Tag nicht persönlich. Aber an jenem Abend hörte ich in der Offiziersmesse eine ganze Menge über ihre erste Begegnung mit dem Mann, den Ashley ausgesandt hatte, um sie nach Faraway Downs zu bringen. Den Drover.

Nicht, dass ich Ashleys Urteilsvermögen etwa in Frage stellen wollte, aber das Bild von Sarah Ashley war mir zu frisch im Gedächtnis, um nicht zu bezweifeln, dass dieser Mann die richtige Person war, sie mit dem Land bekannt zu machen, das ihr Mann zu meistern hoffte. Ein anderer Offizier erzählte recht lebhaft von ihrer Abreise später an jenem Tag – der schäbige Jeep, auf dessen Dach sich Gepäck und Lieferungen für die Farm türmten, und auf dem Beifahrersitz neben dem Drover Lady Ashley, die ihre Bestürzung hinter einem Tropenhut und einem Moskitoschleier verbarg. Sein Publikum amüsierte sich eindeutig, aber alles, was ich empfand, war Mitgefühl.

Ich konnte nicht wissen, dass die Fahrt nach Faraway Downs erst der Anfang war von Sarah Ashleys größtem Abenteuer.

*****

Eine Woche später kam Neil Fletcher nach Darwin, und die Neuigkeiten, die er mitbrachte, verbreiteten sich wie ein Lauffeuer.

Maitland war tot; wenn man Fletchers Geschichte glauben wollte, war er von einem Aboriginal namens King George umgebracht worden... eine Art Medizinmann, der Maitland am Ufer eines Flusses aufgelauert und ihn mit einem Speer ermordet hatte. Fletcher sagte, er hätte sein Bestes getan, Lady Ashley davon zu überzeugen, Faraway Downs so schnell wie möglich zu verkaufen, und er schrieb es ihrer Trauer und einer „allgemeinen Verwirrtheit“ zu (wie er es ausdrückte), dass sie nicht einverstanden war. Die selbe „Verwirrtheit“ führte offenbar zu einer unglückseligen Auseinandersetzung zwischen ihnen, die zur Folge hatte, dass er die Farm verließ. Ich war nicht dabei, als er seine Geschichte zum ersten Mal zum Besten gab, und ich hatte keine Ahnung von der wahren Natur dieser Auseinandersetzung, aber ich erinnere mich an den Tag, als zwei Piloten der Air Force mich darüber informierten, dass sie eine große Viehherde gesehen hatten, die über den Marmont River getrieben wurde. Ich konnte mir nicht verkneifen, diese Information als Ass im Ärmel zu benutzen, als später an diesem Abend Carney versuchte, mich dazu zu bringen, den Vertrag mit der Armee zu unterzeichnen, wie er es schon ein Dutzend Mal zuvor getan hatte.

„Marmont River?“ fragte Gouverneur Allsop, und seine Augenbrauen verschwanden fast unter seinem Haaransatz. „Das ist Faraway Downs!“ Er wandte sich an den Mann hinter ihm. „Treiben Sie eine Herde aus Faraway Downs her, Mr. Fletcher?“

„Nein, nein... ich arbeite da nich' mehr,“ entgegnete Fletcher; sein Gesicht war merkwürdig ausdruckslos, die Worte verwischt von dem weichen, australischen Akzent, der seine Sprache klingen ließ wie einen gut gelaunten, friedlichen Singsang.

„Nun, dann nehme ich an, Lady Ashley treibt ihre Rinder selbst hierher,“ bemerkte Allsop. Er lachte über seinen eigenen Witz, und Carney stimmte mit ein. Doch Neil Fletcher lachte nicht, und ich entdeckte ein entschieden unangenehmes Flackern in seinen Augen.

„Aber irgendjemand hilft ihr offenbar,“ sagte ich und wandte mich jäh ab. Plötzlich konnte ich die Gesellschaft dieses Mannes nicht länger ertragen, und die warme Nachtluft im Freien fühlte sich in meinen Lungen an wie eine Erlösung. Als ich zurück blickte, sah ich, wie Carney etwas zu dem früheren Verwalter von Faraway Downs sagte, und dann verschwand Fletcher hinter einem Vorhang... und aus Darwin, aber das war etwas, das ich erst sehr viel später herausfand.

Eine weitere Woche verstrich, und dann erhielt ich neue Nachrichten über die Air Force. Sie waren sogar noch niederschmetternder als die, die Fletcher mitgebracht hatte. „TRAGÖDIE IN DER NEVER-NEVER“gellten die Schlagzeilen der Zeitung am nächsten Morgen, und „Gruppe beim Viehtrieb in der Kuraman umgekommen“. Das war ein schwerer Rückschlag für meine Hoffnung auf die Rinder von der Ashley-Station, und die Erinnerung an Maitland und seine wunderschöne Frau lastete mir schwer auf der Seele, als ich mich endlich dazu entschloss, zu kapitulieren und den Vertrag zu unterschreiben, den „King“ Carney zweifellos dazu nutzen würde, um die Armeekasse über Jahre hinweg zu melken.

Ich saß an einem der vielen Fenster in seinem Büro, von dem aus man den Hafen und die Bucht überblickte, den Füllfederhalter in der Hand. „Ein wahrer Krieg ist es wohl immer erst dann, wenn jemand Profit damit macht,“ sagte ich, den Geschmack der Niederlage bitter im Mund. Von weit weg hörte ich die Stimme von Carney, der in den Telefonhörer sprach, aber sie war nicht laut genug, um das Geräusch der Feder zu übertönen, während ich dabei zusah, wie mein Name auf dem Papier erschien.

Plötzlich war da ein anderes Geräusch, ein entferntes Dröhnen, das langsam anschwoll, zu dem überwältigenden und unmissverständlichen Donnern von Hufen auf dem staubigen Erdboden. Tausenden von Hufen. Ich drehte mich um und sah den Ausdruck fassungslosen Unglaubens auf Carneys Gesicht, und dann wandte ich mich wieder zurück und erblickte den stetigen, breiten Strom von fünfzehnhundert braunen Leibern und gehörnten Köpfen, die sich in die Hauptstraße von Darwin ergossen und in Richtung Anleger fluteten. Das Vieh von Faraway Downs war endlich eingetroffen, über alle Hoffnungen und Erwartungen hinaus... und ich hatte soeben Carneys Vertrag unterschrieben.

Ich trat dicht ans Fenster und spähte durch die Jalousie. Und dann hörte ich die scharfe, klare Stimme einer Frau, die „Gentlemen!“ rief, und ich sah sie, wie sie die Straße hinunter auf die Carney Cattle Company zu galoppierte.

Ich starrte sie an, kaum fähig, meinen Augen zu trauen. Nichts war geblieben von der englischen Rose, nichts von der arroganten Dame, die ich zum ersten Mal durch Allsops Fernrohr erblickt hatte. Diese Frau schien eins zu sein mit der hinreißend schönen, schwarzen Stute, die sie ritt; ihr Haar unter dem schlichten, braunen Hut war eine zerzauste, ungepflegte Masse, ebenso von Staub gezeichnet wie ihr Gesicht und ihre gesamte Kleidung. Aber sie vibrierte vor Triumph und vor Leben, eine wahre Boadicea an der Spitze ihrer Truppen, und sie schleuderte Carney ihr Angebot vor die Füße wie einen Fehdehandschuh.

„Wir akzeptieren zwanzig Prozent Preisnachlass gegenüber dem, was die Carney Cattle Company verlangt!“

Für einen Sekundenbruchteil wurde das bärtige Gesicht neben mir bleich, aber Carney hatte sich rasch wieder unter Kontrolle. „Das wird nichts, meine Liebe! Der Vertrag ist schon unterzeichnet!”

Und natürlich hatte er Recht. Selbst aus der Entfernung sah ich in ihren Augen die Erkenntnis dämmern, dass all ihre Mühen vielleicht umsonst gewesen waren. Jetzt tauchte ein anderer Reiter neben ihr auf, und durch die aufgewirbelten Staubwolken erkannte ich den Drover. Sie sahen einander merkwürdig ähnlich, zwei Krieger nach einer Schlacht, die sie Rücken an Rücken geschlagen hatten, und mir schoss blitzartig eine Idee durch den Kopf.

„Der Vertrag,” sagte ich, „ist nicht bindend – solange die Rinder nicht verladen sind.”

Es war alles, was ich in diesem Moment für sie tun konnte, das einzige Signal, das ich an diese bemerkenswerte Frau unten auf der Straße aussenden konnte, und an ihren ungewöhnlichen Ritter. Carney trat rasch beiseite und rannte zum Telefon, und ich stand reglos da, zum Warten gezwungen und dazu, die Dinge ihren Lauf nehmen zu lassen.

Das, was dann geschah, beobachtete ich wie das aufgeregte Publikum vom Balkon eines Theaters; Lady Ashley, die ihre Tiere zum Meer hinunter trieb, während Carneys Männer den Drover in einem leeren Viehgatter in die Enge drängten, wo er versuchte, ihre Herde ganz allein aufzuhalten. Mir sank das Herz; wenn Carneys Rinder das Rennen durch das schmale Gatter für sich entschieden, dann würde Sarah das Spiel noch im letzten Moment verlieren. Aber nun sah ich, wie der Drover dem Gatter mit einem mächtigen Satz seines Pferdes über den Holzzaun entkam; er hetzte hinunter in Richtung Schiff, und Männer warfen sich die gesamte Pier entlang aus dem Weg. An einer Stelle beugte er sich aus dem Sattel, und sein Arm hob und senkte sich mit einer fließenden Bewegung. Plötzlich kam der stetige Strom des Viehs in Carneys Laufgatter ins Stocken... und gleichzeitig trabte der erste Bulle von Faraway Downs den breiten Steg hinauf, der an Bord führte, und verschwand im Bauch des Versorgungsschiffes.

Mein Blick ging zurück zur Hauptstraße. Menschen waren aus den Häusern gekommen, und aus dem Territory Hotel; sie schrieen, winkten mit Taschentüchern und warfen ihre Hüte in die Luft. Es sah aus wie ein gewaltiges Fest, und es war nichts weniger als das: David hatte Goliath überwunden und ihn mit dem Gesicht voran in den Staub geworfen, und mein Sieg war beinahe so groß wie der von Lady Ashley. Ich verließ Carneys Büro, ohne ihm auch nur zuzunicken; er ignorierte mich sowieso und sprach ins Telefon, das Gesicht dunkel von stillem Zorn.

Eine Stunde später überreichte ich Sarah Ashley den neuen Vertrag mit der Britischen Armee. Die Damen von Darwins „feiner Gesellschaft“ hatten sich bereits auf sie gestürzt und sie zur Schirmherrin des Wohltätigkeitsballs für die Kinder-Insel-Mission gemacht; sie hatte ein Bad genommen und ein schönes, rosafarbenes Kleid angezogen, mit einem roten Muster aus Vögeln und Blumen – eigenartig, wie genau ich mich an dieses Kleid erinnere, mehr als vierzig Jahre nach diesem Tag. Sie unterzeichnete den Vertrag mit einem schwungvollen Schnörkel und reichte ihn mir zurück. Ihre Augen leuchteten.

Ich verbeugte mich vor ihr. „Lady Ashley...“

„Nennen Sie mich Sarah,“ sagte sie und schenkte mir ein Lächeln, das mir das Herz im Brustkorb schlingern ließ. „Ich würde mich sehr freuen, Sie als Gast auf Faraway Downs begrüßen zu dürfen.“

„Und ich wäre überglücklich, die Einladung anzunehmen,“ erwiderte ich. „Das war sicherlich nicht die erste Rinderherde, die wir während dieses Krieges von Ihrer Station erwarten dürfen. Und außerdem wäre ich entzückt, wenn Sie mir morgen auf dem Ball einen Tanz reservieren würden.“

„Ich will sehen, was ich tun kann,“ sagte sie und ging hinaus; noch immer segelte sie auf dem starken Wind ihres Sieges. Ich blickte hinter ihr her und fragte mich, wie sie sich wohl in meinen Armen anfühlen mochte.

*****

Das war der Vorabend des Balls, und am nächsten Morgen summte Darwin von brandneuem Klatsch. Es war das Allererste, was ich hörte, als ich die Offiziersmesse auf der Suche nach einer Tasse Kaffee betrat.

Sarah hatte die Behörden aufgesucht und um Hilfe bei der Adoption eines kleinen Jungen gebeten, den sie auf Faraway Downs kennen gelernt und auf den Viehtrieb nach Darwin mitgenommen hatte. Der Name des Jungen war Nullah, und er war ein Halbblut. Creamies nannten die Australier Kinder wie ihn mit unverhohlener Verachtung, und die einzige Art, wie Regierung und Kirche mit dem ,Problem' umzugehen wussten, war, die Kleinen in Heimen der Mission zusammen zu pferchen, sie ihr Aboriginal-Erbe und ihre Kultur vergessen zu lassen und ihnen gerade eben genug Bildung zu geben, dass sie in einem weißen Haushalt in Dienst gehen konnten.

Irgendwie musste der Junge Nullah der Aufmerksamkeit der Polizei entgangen sein; das Gerücht besagte, seine Mutter sei bei einem Unglücksfall ums Leben gekommen, unmittelbar, ehe Sarah und der Drover nach Darwin aufgebrochen waren. Von dort aus wurden die Spekulationen rasch immer wilder; die Leute vermuteten, das Kind sei ein Resultat des schockierende Umganges, den der Drover mit den Aboriginals pflegte. Es war weithin bekannt, dass er sich seine Freunde unter ihnen suchte, dass er wenigstens drei Dialekte ihrer rätselhaften, gutturalen Sprache beherrschte, und dass er – das saftigste Stückchen Klatsch – tatsächlich einmal mit einer Aboriginal-Frau verheiratet gewesen war.

Es war ein offenes Geheimnis, dass nicht wenige Männer im Nördlichen Territorium diese Frauen in ihr Bett nahmen, dass sie sie des Nachts ausnutzten und sie tagsüber wie Sklavinnen schuften ließen... bis sie dieser unglücklichen Mädchen müde wurden oder sich entschlossen, sie fort zu schicken, um die natürlichen Konsequenzen auf sich zu nehmen, ohne jede Hilfe durch die Männer, die ihre Kinder so achtlos gezeugt hatten. Doch eine dieser Frauen zu heiraten – in den Augen der guten Leute von Darwin machte eine solche Sache den Drover zu einem perversem Narren... und zu einem Pariah selbstverständlich ebenfalls.

Und nun wollte Sarah diesen Jungen adoptieren... aber wieso? Ich muss zugeben, ich fragte mich dasselbe, aber ich weigerte mich, zu den gleichen, haarsträubenden Schlussfolgerungen zu kommen, zu denen meine Offizierskollegen mit alarmierender Geschwindigkeit gelangten. Ich verließ die Messe, ehe ihre Mutmaßungen dafür sorgten, dass sich mir der Magen umdrehte, und ich konnte nur hoffen, dass all das giftige Geschwätz die Ohren der ehrbaren Matronen von Darwin nicht erreichte, ehe der Ball vorüber war.

Dieser Ball war der Höhepunkt der Saison. Die Händler und die wohlhabenden Rancher des Territoriums nutzten die Chance, Absprachen leicht abseits der Legalität zu treffen (die genau aus diesem Grund ganz besonders dauerhaft waren). Die Ehefrauen dieser Männer holten ihre feinsten Kleider aus den Schränken, schüttelten die Mottenkugeln aus den Rüschen und stürmten die Frisiersalons. Als die Sonne unterging, versammelte sich die High Society von Darwin auf dem hell erleuchteten Ballgelände. Sie tranken Punsch, australisches Bier und Whisky oder drehten sich auf der hölzernen Tanzfläche im Walzer, bis der steife, alte Bandleader und Zeremonienmeister sich gelegentlich für etwas Waghalsigeres entschied und einen Quickstep ausrief. Die Hauptattraktion des Festes war eine Auktion von Tänzen mit den feinsten Damen, die anwesend waren; das Geld war dazu gedacht, die Arbeit der Mission zu unterstützen.

Ich betrat die strahlende Szenerie gemeinsam mit Timothy Abberly, einem klugen, scharfzüngigen Veteranen der Britischen Armee, abgehärtet in einem halben Dutzend Einsätzen in Kaschmir und Kandahar; wir waren rasch Freunde geworden, als meine Ehrlichkeit mich in Australien stranden ließ. Im Gegensatz zu mir hatte Timms den Dienst nach seiner eigenen Zeit in Indien quittiert und die Rechtsanwaltspraxis seines verstorbenen Vaters in Darwin übernommen. Seine sarkastischen Scherze über die Dummheit von gewissen Vorgesetzten und die des britischen Generalstabes im Allgemeinen bot eine erfrischenden Quelle des Vergnügens, und im Gegensatz zu mir war er ein wahrer Frauenheld. Er durchsuchte rasch das Gelände nach irgendwelchen neuen Gesichtern, die eine Attacke mit seinem berüchtigten Charme wert sein mochten. Plötzlich erstarrte er und holte tief Atem. „Oh... entzückend.“

Ich folgte seinem Blick und sah Sarah; sie trug ein spektakuläres, rotes Kleid und hatte sich zarte Blüten ins Haar gesteckt. Gouverneur Allsop ging neben ihr her, sichtlich geblendet von ihrer Erscheinung und entschieden unwillig, sie allzu bald aus den Klauen zu lassen.

„Entschuldige mich...“ sagte ich hastig, eilte die Stufen hinunter und rief ihren Namen. Sie wandte sich in meine Richtung und ihr Gesicht leuchtete auf. „Captain Dutton!“

Für ein paar kostbare Minuten hielt ich den ersten Preis dieses Festes in den Händen, und während ich sie zu Dr. Barker führte (diesen alten, frömmelnden Dinosaurier, der für Mission Island zuständig war), informierte sie mich über ihre Sicht der Dinge. Zu meiner Überraschung und Bestürzung waren die Gerüchte nicht vollkommen falsch; Sarah hatte tatsächlich vor, diesen Mischlingsjungen zu adoptieren, ungeachtet aller Konsequenzen. Sie sprach drängend, und ich spürte die verzweifelte Anspannung unter der Fassade ihrer strahlenden Lieblichkeit.

„Ich habe den Drover darum gebeten, der neue Verwalter von Faraway Downs zu werden.“ Es war ein sehr plötzlicher Themenwechsel. „Aber er... er hat abgelehnt.“

Dann besitzt er offensichtlich mehr Verstand, als Sie es im Augenblick tun. Ich hätte es beinahe laut gesagt, aber nun hatten wir Dr. Barker und den Kreis älterer Damen erreicht, die sicherlich gerne bereit sein würden, ihr beim ersten Anzeichen von Schwäche die Haut abzuziehen. Und in diesem Moment war der Junge ihre Achillesferse.

Ich stand mit dem Rücken zu der kleinen Gruppe und hörte dem Gespräch zu, das sich mit erschreckender Schnelligkeit von einer höflichen Bitte um Informationen in eine hitzige Auseinandersetzung verwandelte. Ich gab mein Gebot für einen Tanz mit Sarah ab – fünfzig Pfund – und gleichzeitig erinnerte ich mich an einen Streit, den ich einmal selbst mit diesem vertrockneten Heuchler Barker gehabt hatte.

„Wir müssen diese unglücklichen Geschöpfe aus dem primitiven Schmutz ihrer Herkunft retten,“ hatte er mir salbungsvoll während einem von Mrs. Allsops Nachmittagstees mitgeteilt. „Die Unterweisung in unseren Missionsschulen ist unabdingbar, um sie zu würdigen Mitgliedern der Gesellschaft zu machen.“

„Würdig in welcher Hinsicht?“ fragte ich unschuldig, drehte die Teetasse zwischen den Fingern und wünschte mir verzweifelt ein stärkeres Getränk. „Als Händler? Landbesitzer? Rancher? Angehörige der Regierung?“

Er starrte mich an; ihm stand der Mund offen. „Captain Dutton! Ich... ich bin absolut sicher, dass der Dienst einem guten, christlichen Haushalt die beste und verdienstvollste Möglichkeit für diese armen Seelen ist.“

„Und obendrein die bequemste Lösung für die weiße Gesellschaft,“ schoss ich zurück. Ich kannte dieses ignorante Gefasel auswendig, aus meiner Zeit in Indien, und hier tauchte es wieder auf. „Die einzige Alternative wäre, die Väter Ihrer ,armen Seelen' dazu zu verpflichten, nicht so achtlos mit den Frauen umzugehen, die sie ausgenutzt haben, und statt dessen echte Verantwortung für ihren Nachwuchs zu übernehmen, gleichgültig, ob die Kinder ehelich empfangen wurden oder nicht.“

Er erbleichte, und rote Flecken erschienen auf seinen Wangenknochen. „Captain Dutton, Sie wollen mir doch nicht wirklich...“

„... erklären, dass es überhaupt keinen Unterschied gibt zwischen diesen Mischlingskindern und unseren?“ fragte ich. „Ich weiß, das ist eine revolutionäre Idee für Sie, Dr. Barker... denn wenn ich Recht habe, dann ist die Zielsetzung Ihrer Missionsschulen mehr als nur ein wenig... fehlgeleitet.“

Ich ließ ihn neben einer von Mrs. Allsops Topfpalmen stehen, kochend vor Bestürzung und selbstgerechter Wut.---

„Lady Ashley!“ - „Das ist in höchstem Maße unangemessen!“ Die Stimmen von Mrs. Barker und Ethel Allsop, in heftiger Empörung erhoben. Die Damen bliesen eindeutig zum Angriff.

„Und ihre Väter können wir ja wohl schlecht fragen, nicht wahr?“ sagte Sarah, ihr Tonfall messerscharf. „Aber vielleicht sollten wir das – immerhin sind sie hier unter uns.“

Ich hatte eine sehr klare Vorstellung davon, worum es in dieser Unterhaltung gegangen war – sie war ohnehin ein Echo meiner eigenen Erinnerungen – und jetzt zermarterte ich mir krampfhaft das Hirn, was ich tun konnte, um einen ausgewachsenen Krieg zu verhindern. So gebannt war ich gewesen von meinen Gedanken und dem wachsenden Konflikt hinter mir, dass ich vergessen hatte, die Auktion weiter zu verfolgen.

„Fünfhundert Pfund!“

Das war „King“ Carney, und zum allerersten Mal war ich wahrhaft froh, ihn zu sehen. Der Auktionator ließ eine zusammenhanglose Hymne auf Carneys zahlreiche Tugenden vom Stapel, und die Menge teilte sich vor ihm wie die Wogen des Roten Meeres vor Moses, als er die Stufen hinab schritt, um den Tanz mit Lady Ashley in Anspruch zu nehmen, den er soeben ersteigert hatte.

„Darf ich bitten - zum Wohle der Mission!“ sagte er, streckte die Hand aus und nahm die ihre. Und ganz plötzlich begriff ich, dass sich tatsächlich ein Krieg abspielte; Carney hatte sich für eine persönliche Attacke entschieden, und er hatte sich genau den richtigen Moment dafür ausgesucht. Sarah war unglaublich verwundbar; Faraway Downs hatte keinen Verwalter, der die Dinge in Ordnung bringen konnte, und ihr Verlangen, dem Jungen Nullah eine Mutter zu sein, machte sie zur Zielscheibe für den Spott der gesamten Stadt. Ich war todsicher, dass er die perfekte Lösung für sie bereits in petto hatte... nicht zum Wohle der Mission allerdings, sondern hauptsächlich zu seinem eigenen.

Ich ging zurück über die Tanzfläche, dorthin, wo mein Freund Timms neben der großen Punschschüssel stand. Er sah den Ausdruck auf meinem Gesicht und grinste.

„Den Kampf um die Prinzessin verloren?“ sagte er. „So wie es aussieht, hat das alte Schlachtross sie dir weg geschnappt.“

„Der alte Schuft,“ schnappte ich und ignorierte entschlossen die Szene auf der Tanzfläche. „Er wird sie dazu bringen, die Station zu verkaufen, und ihre Unterschrift auf unserem Vertrag wird die Tinte nicht mehr wert sein, mit der sie geschrieben wurde. Kannst du dir vorstellen, dass sie tatsächlich den Drover gebeten hat, ihr neuer Verwalter zu werden? Was um Himmels Willen hat sie sich dabei gedacht? Dass er zustimmen würde, demütig wie ein Lamm, und dass sie ihn in einen feinen Anzug stecken und der versammelten Menge präsentieren könnte, hier auf dem Ball?“

Timms lachte. „Komm schon, alter Junge... du wolltest ihr Ritter in strahlender Rüstung sein, und du hattest keinen Erfolg damit. Trag es wie ein Mann.“

Er reichte mir ein Glas Punsch; ich nahm einen Schluck und fand ihn ekelerregend süß. Hinter mir endete der Langsame Walzer mit einer kleinen Fanfare, und es folgte eine kurze, aber spürbare Stille. Timms spähte über meine Schulter hinweg. Seine Augen weiteten sich in ehrlicher Überraschung.

„Und übrigens – die Stelle ist schon besetzt. Denn siehe – der Zauberspruch hat gewirkt, und Aschenputtel ist zum Ball gekommen.“

Ich drehte mich um. Genau gegenüber von mir stand ein Mann im Torbogen, der auf das Ballgelände führte... elegant gekleidet mit polierten Schuhen, schwarzen Hosen, einem frischen Hemd und einem weißen Dinnerjacket. Ich sah braunes, sauber gestutztes Haar und ein bemerkenswertes Gesicht, glattrasiert und die Lippen zu einem leichten Lächeln gekräuselt. Ich brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, wie sehr Kleidung und ein fehlender Bart die Erscheinung des Reiters verändert hatte, den ich erst vor einem Tag dabei beobachtet hatte, wie er gleich einem Zentaur die Pier entlang stob und die Seile des Fallgatters durchschnitt.

„Mein Gott.“ Ich war eigentlich besser erzogen, als den Namen meines Schöpfers zu missbrauchen, aber meine Reaktion war nichts im Vergleich zu der Schockwelle, die durch die Menge ging, als den Leuten klar wurde, dass Lady Ashley es gewagt hatte, den Drover einzuladen.

Es war nicht schwer, Sarah zu finden – in ihrem Kleid hob sie sich von den anderen Gästen ab wie eine lichterloh brennende Flamme. Sie gingen aufeinander zu und suchten sich stetig ihren Weg durch das unruhige Muster aus Männern und Frauen, bis Weiß und Karmesin dicht beieinander standen. Er nahm ihren Arm und führte sie auf die Tanzfläche, und als die Band „Begin the beguine“intonierte, fingen sie an, sich zum langsamen Rhythmus des Foxtrotts zu bewegen.

Ich spürte Timms' Blick auf meinem Gesicht, und plötzlich hörte ich seine Stimme, leise und mit einem Unterton sanfter Belustigung:

„Hüte dich, mein Herr, vor Eifersucht;
Es ist das grünäugige Ungeheuer,
das das Fleisch verhöhnt, an dem es weidet...“

„Um Himmels Willen, erzähl mir nicht, dass du deine Liebe für Shakespeare entdeckt hast!“ knurrte ich. Ohne auf seine Antwort zu warten, wandte ich mich ab und ging hinaus in die Nacht. Die Luft hatte sich abgekühlt, und Wolken hingen dicht über den Dächern. Ich konnte den rastlosen Tanz von Blitzen hinter dem zusammen geballten Grau und Schwarz sehen, und ich hörte entfernten Donner... die ersten Anzeichen dessen, was die Australier lakonisch „Die Nässe“ nannten. Während ich den Hügel hinunter auf das Hauptquartier der 19. Brigade zu hastete, fielen die ersten, schweren Tropfen, und binnen Minuten verschwand die Welt hinter einem kühlen, silbernen Vorhang aus Regen.

*****

Es dauerte mehr als zwei Jahre, bis Sarah nach Darwin zurückkehrte; genügend Zeit, dass der Skandal zu einem gesenkten Flüstern unter der Oberfläche verklang.

Indem sie sich aus den Sorgen und Kümmernissen von Darwin heraus hielt, entging ihr ein halbes Dutzend kleinerer Dramen und eine echte Tragödie: im Juni 1940 ging Leslie „King“ Carney gemeinsam mit seinem zukünftigen Schwiegersohn, Neil Fletcher, auf einen Jagdausflug, und er kam nicht lebend zurück. Fletcher berichtete mit allen Anzeichen tiefster Trauer, dass Carney gestolpert und in einen seichten Fluss gefallen sei, der von Krokodilen verseucht war. Eine dieser Bestien zog ihn unter Wasser und riss ihn in Stücke, bevor Fletcher mehr tun konnte, als blind ins Wasser zu feuern.

Die allgemeine Bestürzung war groß, und eine Woge der Sympathie für die Witwe und die verwaiste Tochter erfasste die ganze Stadt. Allerdings stimmten die meisten Leute darin überein, dass es noch viel schlimmer hätten kommen können; Neil Fletcher übernahm nahtlos die Geschäfte des Vaters seiner Verlobten, arrangierte seine Hochzeit in einem Minimum an Zeit und mit einem Maximum an Prunk und sorgte rasch dafür, dass die Dinge wieder normal liefen. Jedermann war beruhigt – der König war tot, lang lebte der König.

Ende 1941 brachte mich die nicht enden wollende Mühe, Vorräte für eine wachsende Anzahl Soldaten zu organisieren, endlich auf Sarahs Farm. Ich musste Versorgungslöcher mit der Linken stopfen, während ich mit der Rechten neue Löcher aufriss. Ich brauchte Wolle für die Uniformen, Mehl und Gemüse, und selbstverständlich Rindfleisch. Faraway Downs erfüllte seine Verpflichtungen verlässlich und pünktlich, und trotzdem wurde bei der Armee der Nachschub knapp.

Ich erreichte die Farm an einem heißen Spätnachmittag. Sarah rannte die flachen Stufen der Veranda hinunter und kam mir entgegen, eine wunderschöne Vision in sandfarbenen Hosen und einer weißen Bluse. Ich wollte ihr die Hand schütteln und wurde statt dessen in eine lockere Umarmung gezogen. Weiches, duftendes Haar kitzelte mich am Kinn, während ihre Lippen meine Wange streiften.

„Willkommen,“ sagte sie, und ihre Stimme war ganz genauso lieblich, wie ich sie vom Wohltätigkeitsball in Erinnerung hatte. „Wie war die Fahrt?“

„Lang und staubig,“ sagte ich leicht verblüfft. „Im Moment brauche ich nicht mehr als einen Eimer Wasser zum Durstlöschen und noch einen, um mich ordentlich abzuschrubben.“

Sie lächelte und zog mich mit sich ins Haus; es war ein solides Gebäude mit dicken Mauern, und die Zimmer waren überraschend kühl. Da war ein Wohnzimmer mit ausgewählten Mahagonimöbeln und einem Perserteppich auf dem Holzfußboden, dann ein Esszimmer mit einem langen, polierten Tisch. Eine Tür öffnete sich, und ein Junge rannte auf Sarah zu und nahm ihre Hand. Er war etwa zehn, mit einem hübschen, offenen Gesicht und strahlend schwarzen Augen. Zerzauste Locken von warmem, sonnengoldenen Braun fielen ihm bis auf die Schultern und seine Haut hatte den angenehmen Farbton von feinem Toffee.

„Emmet,“ sagte Sarah, unmissverständlichen Stolz und Liebe in der Stimme, „das ist Nullah. Und Nullah, das hier ist einer unserer guten Freunde, Captain Emmet Dutton.“

Die schwarzen Augen studierten mich mit großem Interesse und einer gewissen Vorsicht. Er wandte sich zu ihr, ohne den Blick von mir abzuwenden.

„Missus Boss, er ist doch kein Polizist, wie dieser Mann Callahan... oder?“ Es war ein Bühnenflüstern, eine Warnung, nicht nur an sie gerichtet, sondern auch an mich. „Er ist nicht von der Polizei?“

„Das bin ich nicht,“ sagte ich und verbeugte mich feierlich. „Ich kann ehrlich behaupten, dass Callahan nicht zu meinen Lieblingspersonen in Darwin gehört.“

„Ich mag ihn auch nicht.“ Nullah lachte, ganz weiße Zähne, Grübchen und strahlende Freude, und ich sah, wie sich seine Gefühle in Sarahs Augen widerspiegelten. „Missus Boss, ich geh und sag Bandy, sie soll dein Bad für deinen Freund machen ja?“

„Sehr gute Idee... danke, Nullah,“ erwiderte Sarah, und schon war er zur Tür hinaus, wie ein Wirbelwind. Ihr Blick folgte ihm, und ich konnte die starke Verbindung zwischen ihnen spüren... für Sarah, war dies wahrhaftig ihr Kind, ganz gleich, wer ihn geboren hatte und ungeachtet, welcher Rasse er entstammte.

Ich nahm ein Bad; als ich mich abgetrocknet und umgezogen hatte, fand ich einen üppigen Nachmittagstee vor. Nullah war nirgendwo zu entdecken, und Sarah trug das Kleid, das ich bereits an ihr gesehen hatte, als sie den Vertrag mit der Armee unterschrieb. Sie war nicht die Einzige, die auf mich wartete; als ich das Zimmer betrat, erhob sich der Drover von dem Stuhl am Kopf der Tafel.

Sein Bart war nachgewachsen, aber er sah auf eine sehr natürliche, entspannte Weise gepflegt aus. Er begrüßte mich mit echter Freundlichkeit, und wir ließen uns zu einer Mahlzeit aus süßem Mürbegebäck, Sandwiches und geeistem Obst nieder. Ich hatte viel Gelegenheit, die beiden zu beobachten, obwohl die Unterhaltung mühelos dahin plätscherte. Zwischen Sarah und dem Jungen existierte ein starkes Band, und hier war ebenfalls ein Band... mindestens so lebendig wie das andere, und doch anders. Ich sah zwei unabhängige Geschöpfe, mit unwiderstehlicher Macht voneinander angezogen... ich konnte es in der Art spüren, wie sie sich ansahen, wie ihre Finger sich beinahe berührten, als er ihr ein Glas Sherry eingoss, oder als sie ihm den Teller füllte. Es war ein steter Strom tiefer Gefühle, und erst als ich den Hautgrund meines Besuches zur Sprache brachte, begriff ich, dass es unter der glatten Oberfläche gefährliche Strudel gab.

„Faraway Downs ist nichts weniger gewesen als der beste, vorstellbare Geschäftspartner,“ sagte ich und schälte eine Orange. „Aber auch wenn die Dinge hier außergewöhnlich gut laufen, können Sie Ihr Vieh nicht schnell genug züchten, um uns die Anzahl von Tieren zu verschaffen, die wir tatsächlich brauchen.“

Der Drover betrachtete mich vom anderen Ende des Tisches aus. „Und das heißt was genau?“

„Ich habe dreitausend Stück Vieh aufgetrieben und gekauft, von verschiedenen Farmen in New South Wales. Alles, was wir jetzt tun müssen, ist, sie einzusammeln und sie nach Darwin zu treiben. Das wird selbstverständlich den Vertrag mit Faraway Downs in keiner Weise beeinträchtigen,“ fügte ich hinzu, an Sarah gewandt. Sie saß regungslos da, leicht angespannt, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen. „Wir brauchen die bestmöglichen Viehtreiber. Es könnte etwa sechs Monate dauern.“

„Einmal quer durchs Land.“ Das war der Drover, aber in diesem Moment war meine Aufmerksamkeit ausschließlich auf die Frau gerichtet, die mir gegenüber saß. Sie hielt sich unter Kontrolle, aber ich konnte sehen, dass Protest von ihr ausstrahlte wie ein plötzlicher Ausbruch von Hitze.

„Kommt nicht in Frage - du bist gerade erst zurück gekommen!“

Der Drover öffnete den Mund und schloss ihn wieder, und ich sah, wie eine Wolke sein Gesicht verdunkelte... nicht sehr anhaltend, aber sie war da gewesen, und zum ersten Mal fragte ich mich, wie lange diese willensstarke Eva wohl imstande sein würde, „ihren“ Adam in dem privaten Elysium zu halten, das sie rings um die beiden erschaffen hatten... und ob dies das erste Mal war, das sie versuchte, ihm Regeln zu setzen. Nach all dem, was ich über diesen Mann wusste, sah ich ganz gewiss Schwierigkeiten voraus. Und ich wollte ungern die Rolle der Schlange in Sarahs persönlichem Paradies übernehmen.

„Denken Sie darüber nach,“ sagte ich und versuchte, die Wogen zu glätten. „Sie müssen nicht gleich eine Entscheidung fällen; aber nachdem der erste Viehtrieb von Faraway Downs nach Darwin genügend Stoff für ein halbes Dutzend Legenden geboten hat, musste ich einfach den besten Mann fragen, den ich mir für diese schwierige Aufgabe vorstellen kann.“

Wir wechselten das Thema und sprachen von anderen Dingen, bis ich mich zurückzog und es ihnen überließ, den Konflikt selbst zu lösen. Am nächsten Morgen gab ich dem Drover sämtliche Details, die ich bereits zu bieten hatte, und ich versicherte ihm, dass es ein ganzes Team von Treibern und erfahrenen Fährtensuchern geben würde, damit die ganze Sache wenn schon nicht einfacher, aber doch immerhin leichter wurde. Ich traf auch Sarah am Frühstückstisch, und sie lauschte meinen Erklärungen, ohne einen Kommentar abzugeben. Ich dachte, dass sie eine Art Burgfrieden erzielt haben mussten, aber ich bekam nicht die Chance, es herauszufinden, denn mein enger Zeitplan zwang mich, kurz danach aufzubrechen und nach Darwin zurück zu kehren.

Das letzte Mal, dass ich sie an diesem Tag sah, war, als ich meinen Armeejeep anließ und ihn die Piste hinunter steuerte; den Mann und die Frau, die vor dem Tor standen und das Kind, das ihre Hände hielt, eine lebendige Verbindung zwischen den beiden. Es war ein merkwürdig friedvolles Bild, aber es verschwand allzu rasch außer Sicht, verborgen hinter einer erstickenden, braunen Staubwolke.

*****

Das war im November, und dann folgte der Dezember und mit ihm der entsetzliche Schock von Pearl Harbor. Australien hatte bereits Tausende junger Männer auf die Schlachtfelder in Asien geschickt, aber jetzt kam der Krieg erschreckend nahe, und Darwin konnte sehr wohl ein Ziel für den nächsten japanischen Luftangriff werden.

Also beschlossen die Behörden, die Bürger zu evakuieren... hauptsächlich alte Leute, Frauen und Kinder. Alles in allem blieben am Ende nur noch zweitausend Einwohner übrig, die bald von alliierten Truppen verstärkt werden sollten. Ich hatte mit der Angelegenheit nichts zu tun – abgesehen davon, dass ich die Befehle ausschrieb und mich darum kümmerte, dass jeder rechtzeitig von der Evakuierung wusste. Das Gebäude der Carney Cattle Company war zum Armeehauptquartier gemacht worden, weil es sich am besten für diesen Zweck eignete.

Ein großes Schiff lag im Hafen verankert, bereit, die Bürger an Bord zu nehmen, die Darwin in diesem Krieg nicht verlieren wollte. Als ich hinunter zum Ufer kam, um bei der Abfahrt zuzusehen, begegnete ich zuerst Neil Fletcher, der mit einem Ausdruck tiefster Selbstzufriedenheit auf dem Gesicht an mir vorbei ging, und dann die Person, die ich ganz sicher als Letzte zu sehen erwartet hatte: Sarah Ashley. Sie stand mit dem Rücken zum Geländer des Anlegers, war so bleich wie saure Milch und sah aus, als würde sie jede Minute in Ohnmacht fallen.

„Sarah! Was um Himmels Willen...“

„Oh, Emmet!“ Sie hastete zu mir herüber, die Hände ausgestreckt wie eine ertrinkende Schiffbrüchige auf der Suche nach der Rettungsleine, und im nächsten Moment hielt ich sie in den Armen. Dies war nicht die Frau, die ich kannte, nicht die energiegeladene Amazone, die das Schicksal ihrer Station in beide Hände genommen und das Spiel gewonnen hatte... und auch nicht die starke, glückliche Eva, sicher in ihrer Zuflucht in der Mitte von Nirgendwo.

„Sie haben mir meinen Jungen weg genommen!“ schluchzte sie in meine Schulter hinein. „Sie haben mir Nullah weg genommen, und sie haben ihn und alle diese Mischlingskinder nach Mission Island gebracht, und Fletcher hat gesagt... Fletcher hat gesagt...“

„Was hat Fletcher gesagt?“ Keine Antwort. Ihr gesamter Körper zitterte wie im Fieber. „Kommen Sie, Sarah, ich bringe Sie weg von hier. Das ist nicht der richtige Ort, um zusammen zu brechen. Wir gehen zum Territory Hotel, und da nehmen wir einen Drink. Ich brauche ganz sicher einen, und Sie sehen aus, als hätten Sie auch einen nötig.“

Es gelang mir, sie vom Anleger und aus dem Hafen zu manövrieren, und nach einer Weile gewann sie wenigstens einen Teil ihrer Fassung zurück. Sie ging mit raschen Schritten neben mir, das Gesicht starr vor Anspannung, die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen gepresst. Wir erreichten das Hotel und betraten den Pub. Ivan Rolev stand hinter der Bar und polierte Gläser. Als er sie sah, machte er große Augen.

„Lady Ashley? Was tun Sie denn chier? Wo ist der Drover? Ist er mit Ihnen gekommen?“

Das war eine gute Frage, eine sehr gute sogar. Doch anstatt sie zu beantworten, sank Sarah auf einen Stuhl, stützte die Ellbogen auf den Tisch und vergrub das Gesicht in beiden Händen. Zu meiner Verblüffung zog Rolev eine Flasche unter dem Tresen hervor und goss eine großzügige Menge von einer dunklen Flüssigkeit in ein Glas. Unsere Augen begegneten sich, und als er sah, dass ich nickte, füllte er noch ein zweites.

Bis zum letzten Zivilisten und Soldaten, der sich in Darwin auf die Suche nach einem ordentlichen Rausch begab, war Rolev wohlbekannt für seine Aversion gegen Aboriginals – er nannte sie Abos – und gegen Frauen, vor allem dann, wenn sie es wagten, in seiner Bar aufzutauchen. Aber offensichtlich war er ebenso wie jedes andere männliche Wesen im Nördlichen Territorium außerstande, Sarahs Zauber zu widerstehen.

Sie nahm das Glas, stürzte den Brandy hinunter und hustete. Als sie sprach, war ihre Stimme heiser und müde.

„Der Drover ist fort... hinüber nach New South Wales, denke ich. Er wollte mir nicht glauben, dass Nullah nie auf diese... diese ,Wanderung' gegangen ist. Er wollte mir nicht helfen, ihn zu finden. Er hat nicht...“ Sie schluckte. „Ich habe von Anfang an gewusst, dass die Polizei meinen Jungen mitgenommen hatte. Und als ich vor einer Stunde herkam, konnte ich ihm nur Lebewohl sagen, und ihm versprechen, dass ich alles tun werde, um ihn wieder von dieser Insel herunter zu holen. Sie müssen ihn mir zurückgeben, sie müssen!“

Ich berührte ihre Hand auf dem Tisch; sie war zu einer Faust verkrampft. „Und was war das über Fletcher, Sarah?“

Ihr Kopf fuhr hoch, und plötzlich flammten ihre Augen. „Er hat mir gesagt, dass es auf Mission Island einen Funkturm gibt, und das er das erste Ziel für die japanischen Bomben sein wird. Er hat mir praktisch erklärt, dass Nullah stirbt, falls es einen Angriff geben sollte. Wussten Sie, dass er mich auf Faraway Downs besucht hat, kurz bevor Sie kamen?“

„Nein.“ Ivan kam hinter der Bar hervor und füllte ihr Glas noch einmal nach. „Was wollte er?“

„Er wollte Faraway Downs.“ Sie zog ihre Hand zurück und fing an, das Glas zwischen den Fingern zu drehen. „Er sagte, seine Familie hätte den Besitzern seit drei Generationen gedient, und dass die Farm von Rechts wegen ihnen gehören würde. Er sagte, er würde mir bei der Adoption behilflich sein, wenn ich sie ihm verkaufen würde, und als ich mich geweigert habe...“

Für einen langen Moment schwieg sie. Dann goss sie entschlossen den zweiten Brandy in sich hinein und schaute mir geradewegs in die Augen. Ihr Blick war kalt und verzweifelt.

„Er fragte mich, ob ich von Mr. Carneys... Unfall gehört hätte. Er sagte, so etwas könnte jederzeit noch einmal passieren, Nullah vielleicht, oder dem... dem Drover.“ Abwesend wischte sie sich eine verirrte Träne von der Wange. „Wussten Sie das Fletcher Nullahs Vater ist?“

„N... nein. Ist das Ihr Ernst?“ Ich sah auf mein eigenes Glas hinunter und beschloss, die Finger davon zu lassen. Ivans Brandy schien interessante Nebenwirkungen zu haben.

„Ich bin nicht betrunken,“ sagte sie leise, als könnte sie meine Gedanken erraten. „Ich weiß ganz genau, wovon ich spreche... der einzige Fehler ist, dass ich nichts davon beweisen kann. Neil Fletcher ist ein sehr böser und ein sehr gerissener Mann.“

Ihre Handfläche schlug flach auf die Tischplatte, und der Brandy in meinem Glas wäre beinahe über geschwappt.

„Ich kann nicht beweisen, dass Neil Fletcher einen Aboriginal-Speer mit einer Glasspitze aus dem Wohnzimmer in Faraway Downs mitgenommen und meinem Ehemann vor fast drei Jahren am Fluss aufgelauert hat. Er tötete ihn mit diesem Speer und erzählte den Behörden, es sei ein gewisser King George gewesen – der ist übrigens Nullahs Großvater.“

Noch ein Schlag auf den Tisch.

„Ich kann nicht beweisen, dass Fletcher Tausende von Bullen und Kühen gestohlen hat, während mein Mann noch lebte. Ich kann nicht beweisen, dass er Callahan geschickt hat, um Nullah zur Mission mitzunehmen, nachdem ich ihn gefeuert hatte. Daisy – Nullahs Mutter – geriet in Panik, als sie die Polizisten kommen sah und flüchtete sich mit Nullah in den Wasserturm. Sie konnte nicht schwimmen, müssen Sie wissen. Sie klammerte sich an die rostige Leiter im Inneren und die brach ab... und deshalb ist sie ertrunken.“

Ihre Hand lag still, aber nun nahm ich einen langen Zug von dem starken Brandy in meinem Glas. Mein Magen fühlte sich an wie ein solider Eisblock.

„Ich kann nicht beweisen, dass Fletcher und seine Männer während des Viehtriebs nach Darwin einen Hinterhalt für uns gelegt haben. Erst setzten sie das Outback in Brand, und wir verloren meinen Buchhalter Kipling Flynn, als die Herde in Panik geriet und durchging. Dann – nach dem wir wider Erwarten überlebt hatten – gingen sie hin und vergifteten jede einzelne Wasserstelle, an der wir auf dem Weg hierher vorbei mussten... was ich ebenfalls nicht beweisen kann. Wir hätten den Viehtrieb nie überstanden, wenn King George nicht gewesen wäre. Er... er hat uns durch die Wüste gesungen, und geradewegs zu sauberem Wasser.“

Ich starrte sie an; mir fehlten die Worte.

„Wie schon gesagt,“ fuhr Sarah bitter fort, „beweisen kann ich nichts. Und jetzt streckt Fletcher die Hand nach Faraway Downs aus, und wenn die Behörden mir nicht helfen – und das werden sie höchstwahrscheinlich nicht – dann muss ich es ihm überlassen, oder ich sehe Nullah nie wieder. Und das darf nicht geschehen. Das darf nicht geschehen!“

Sie holte tief Luft.

„Er hat gesagt, er wird mir helfen, eine Beschäftigung zu finden; seine Frau Cath arbeitet als Telefonistin im Hauptquartier, und wenn ich sein Angebot annehme, kann ich wenigstens in Darwin bleiben, nahe bei meinem Kind.“

Ich saß da, betäubt von der Monstrosität ihrer Geschichte. Tief in meinem Herzen wusste ich, dass sie weder betrunken war noch verwirrt. Sie sprach die Wahrheit, und sie hatte Recht – es gab nichts, was sie tun konnte, nicht ohne irgendwelche verwertbaren Beweise von Fletchers Verbrechen. In anderen, friedlicheren Zeiten wäre es vielleicht möglich gewesen, ihre Anschuldigungen zu untersuchen, aber wir befanden uns im Krieg und niemand – nicht die örtlichen Behörden und ganz sicher nicht die Regierung – würde irgendein Interesse daran haben, die Dinge noch weiter zu verkomplizieren, in dem man Neil Fletcher wenigstens dreier Morde anklagte.

Ich konnte ihr nicht helfen, nicht hier und nicht jetzt. Ich ließ sie da vor dem Tisch sitzen, in Gedanken verloren; ich fuhr ihren Wagen hinter das Hotel und sorgte dafür, dass Ivan Rolev ein Zimmer für sie vorbereitete. In jener Nacht verfolgten mich ihre verzweifelten Augen und ihre ausdruckslose Stimme bis in meine Träume, und meine Unfähigkeit, den gordischen Knoten für sie durchzuhauen, fühlte sich an wie die größte Niederlage meines Lebens.

*****

Das zweite Jahr des Krieges schleppte sich seinem Ende entgegen. Weihnachten war eine freudlose Angelegenheit in der halb verwaisten Stadt, und am Silvesterabend gab Neil Fletcher eine Party für die Telefonistinnen und die wenigen anderen Frauen, die in Darwin zurück geblieben waren. Seine Frau lud auch Sarah ein; es war kein Geheimnis, dass Cath die legendäre Lady Ashley bewunderte, und sie war eine viel zu sanfte und freundliche Seele, als dass sie sich um irgendwelchen Klatsch gekümmert hätte, der an ihr Ohr drang. Gleichzeitig glaubte sie fest daran, dass ihr Ehemann alles tat, um ihrer Freundin bei der schwierigen Angelegenheit mit Nullahs Adoption zu helfen; ich vermute, dass Sarah einfach nicht das Herz besaß, ihr die abstoßende Wahrheit über den Mann zu erzählen, den sie geheiratet hatte.

Mitte Januar reiste ich nach New South Wales, um mit einem der größten Schafzüchter dort über Wolllieferungen zu verhandeln. Danach meldete ich mich beim Generalstab in Canberra und erstattete Bericht über die Lage in Darwin. Es hatte bereits andere Berichte gegeben, in denen man sich über die Tatsache beklagte, dass die Ausstattung mit Verteidigungswaffen alles andere als optimal war. Abgesehen von vier Batterien 3,7 Inch-Luftabwehr-Kanonen wurde die Hauptstadt des Nördlichen Territoriums von kaum mehr als einem Dutzend Lewis-Maschinengewehre geschützt, und sie mussten auf selbst gebaute Gestelle aus Baumschösslingen gestützt werden, damit man damit überhaupt in die Luft zielen konnte. Wenn die Schützen Übungsschüsse abfeuerten, dann mussten sie es ohne Munition tun, und die Gewehre wurden von einer Verteidigungsstellung zur nächsten weiter gereicht, einfach deswegen, weil es nicht genügend Waffen gab. Aber der Generalstab würde die Probleme kaum schnell lösen können; er hatte genügend anderes zu bedenken, und man konnte nur hoffen, dass die japanischen Bomber nicht allzu bald kamen. Der Februar hatte bereits begonnen, als ich endlich ins Nördliche Territorium zurück kehrte.

Ich traf mich am 18. Februar mit Sarah, dieses Mal in der Offiziersmesse. Sie trug einen Khakirock und eine hellblaue Bluse, und ihr blondes Haar wurde von einer Schildpattspange zurückgehalten. Sie sah erschöpft und gleichzeitig merkwürdig erleichtert aus.

„Ich werde Faraway Downs verkaufen,“ sagte sie über ihr Glas Weißwein hinweg zu mir. „Fletcher hat versprochen, mir morgen eine Überfahrt nach Mission Island zu verschaffen. Ich nehme Nullah mit zurück, und wir gehen nach Süden.“

Also war der Kampf vorüber. Ich betrachtete sie und begriff, wie sehr ich sie vermisst hatte... den Klang ihrer Stimme, ihr sanftes Lachen (das während der letzten zwei Monate immer seltener zu hören gewesen war), den Anblick ihres lieblichen Gesichtes. Ich verfluchte den Krieg, verfluchte die Tatsache, dass meine Pflichten mich allzu oft aus ihrer Gegenwart vertrieben. Der Drover war nie gekommen, um sich mit ihr zu versöhnen... ob es die Furcht war, dominiert zu werden, oder die Angst, durch seine Liebe zu dieser willensstarken, mutigen Frau in der Falle zu sitzen, das wusste ich nicht. Alles, was ich sicher wusste, war, dass ich sie von dem Moment an bewundert hatte, als ich sie durch Allsops Fernglas zu Gesicht bekam... und jetzt, in diesem Augenblick, wünschte ich mir, dass ich endlich den Mut aufbringen würde, Sarah zu sagen, wie viel ich für sie empfand. Ich sehnte mich danach, sie aus der Gefahr in Darwin fort zu bringen. Ich wollte sie in einen Kokon aus Sicherheit, Zärtlichkeit und Schutz einhüllen.

Doch gleichzeitig wusste ich, dass es nie das gewesen war, was sie sich wünschte. Sie verlangte nicht nach Anbetung und Zuflucht, nicht einmal jetzt. Sie wollte ihr Kind, und wenn sie Faraway Downs opfern musste, um den Jungen zu bekommen, dann würde sie das tun. Der Drover hatte ganz gewiss nie versucht, ihren Lebensweg mit Rosen zu bestreuen. Er hatte sie gnadenlos herausgefordert, weil er den stählernen Kern unter der zarten Oberfläche erkannte... nur, um vor der großen Kraft davon zu laufen, die er selbst aus Sarah Ashley heraus gelockt hatte. Was für ein Idiot.

Ich nahm ihre Hand und berührte sie mit den Lippen. „Ich werde Sie vermissen,“ sagte ich leise. „Der Gedanke, dass Sie hier in Darwin sind, und daran, dass ich gelegentlich Ihr Gesicht sehen konnte, war eines der Dinge, die mich während der letzten zwei Monate bei Verstand gehalten haben.“

„Danke, Emmet.“ Sie erhob sich von ihrem Stuhl, beugte sich über den Tisch und küsste mich... ganz sanft, aber mitten auf den Mund. „Ich denke nicht, dass wir uns morgen sehen... leben Sie wohl. Sie sind mir ein wunderbarer Freund gewesen.“

Ich sah ihr nach, als sie die Messe verließ und ignorierte entschlossen die neugierigen Blicke von allen Seiten. Ein schweres Gewicht lastete auf meinem Herzen, und für ein paar Sekunden verspürte ich das Stechen von unmännlichen Tränen hinter meinen Augenlidern.

*****

Der nächste Morgen dämmerte warm und klar. Ich stand früh auf, frühstückte und unterhielt mich dabei mit einem Major der Air Force. Er erzählte mir, dass die zehn Kittyhawks, die um 9.15 Uhr nach Timor abgeflogen waren, zurück erwartet wurden – wegen massiver, japanischer Luftangriffe gegen Niederländisch Ostindien und wegen aufziehender Unwetter. „Die Piloten sind alle noch feucht hinter den Ohren,“ sagte er, „und wir können uns nicht leisten, auch nur einen einzigen Mann zu verlieren.“

Ich ging zum Haus des Gouverneurs: ich erinnere mich, dass mir die Sonne hell auf den Kopf schien, und dass ich mir die Uniformmütze abnahm, um mir die Stirn zu trocknen. Es war beinahe zehn Uhr, als ich auf der Terrasse stand und auf die Stadt hinunter schaute. Im Hafen von Darwin drängten sich die Schiffe; ich konnte Männer sehen, die wie Ameisen an Bord der Neptunia schwärmten, um Holz für die Reparatur der Pier zu löschen.

Ein Anruf kam herein, von Armeehauptquartier; Gouverneur Allsop reichte mir den Hörer und kehrte zu seinem Papagei zurück. Er plapperte allerlei Unsinn mit dem Vogel, während ich versuchte, herauszufinden, was der aufgeregte, junge Offizier durch das Rauschen atmosphärischer Klangstörungen sagen wollte.

„... kann die Ordonnanz nicht verstehen... fliegen sehr hoch... massives Geschwader von... Funknachricht von Mission Island, nur vor einer Minute abgebrochen... warten auf einen Befehl...“

Ich schüttelte den Kopf. Seine Worte machten für mich überhaupt keinen Sinn.

„ Wenn Sie die Ordonnanz nicht verstehen können, wie verstehen Sie dann den Befehl?“ fragte ich, und versuchte, die Störungen zu übertönen... und dann begriff ich plötzlich, dass der meiste Lärm nicht aus dem Hörer kam, sondern aus der Richtung des Hafens. Ich drehte mich um und blickte nach oben zum Himmel... und dann sah ich endlich, wovon der junge Offizier die ganze Zeit geredet hatte.

Ein massives Bombengeschwader, es fliegt sehr hoch.

Ich wandte mich zum Gouverneur zurück und sah die fast komische Verblüffung auf seinem Gesicht.

„In den Bunker mit Ihnen!“ schnauzte ich über meine Schulter zurück und rannte die Treppe hinunter, so rasch ich konnte. „Das hier ist ein echter Luftangriff – die Japse kommen!“

Ich schoss auf die Straße hinaus, und jetzt ertränkte das Dröhnen der Bomber alles andere. Direkt vor mir, etwa fünfhundert Meter voraus, gab es eine Explosion... das war das Postamt, und nach der Staubwolke und dem Trümmerregen zu urteilen, war von dem Gebäude nicht mehr viel übrig. Ich hastete den Hügel hinunter, und dann kam ein weiteres Dröhnen, und ein Donnerschlag. Im allernächsten Moment schienen mich zwei riesige Hände vom Boden hoch zu heben; sie katapultierten mich durch die Luft und ließen mich zum Glück auf dem kleinen Rasenstück vor einem Haus in der Nähe fallen. Ich kam mühselig wieder auf die Beine, ein Summen in den Ohren, während mir ein dünnes Blutrinnsal über die Schläfe hinunter sickerte. Als ich den Weg zurück schaute, denn ich gerade erst gekommen war, sah ich die Residenz. Ein riesiger Krater gähnte dort, wo nur Sekunden zuvor noch das Dach gewesen war.

Und dann brach die Hölle los.

*****

Manchmal ist das Alter gnädig. Es fügt den Ereignissen eine Schicht nach der anderen hinzu und verschleiert den Blick auf Dinge, an die uns zu erinnern wir kaum ertragen können. Und doch – manchmal schießen uns kleine Details wieder durch den Kopf, blendend und grell.

Ich erinnere mich nicht mehr daran, wo genau ich an diesem sonnigen Tag im Februar 1942 überall hin ging... aber noch immer fühle ich das Gewicht der Patienten, die ich aus dem Krankenhaus an der Cullen Bay heraus schleppte, nur Minuten, bevor sechs Bomben direkt davor hoch gingen. Es gibt Tage, an denen lässt mich der schlichte Geruch von brennendem Holz in einem Kamin nach Luft schnappen, und der Gestank lang verkohlter Trümmer versengt mir die Nase. Ich erinnere mich an Leichen, unter den eingestürzten Mauern ihrer Häuser heraus gezogen, und Verwandte, die auf der Suche nach den Resten ihrer Existenz durch die Ruinen taumelten. Ich erinnere mich an mein ungläubiges Entsetzen, als man mir berichtete, dass von den zehn zurück gekommenen Kittyhawk-Piloten nur einer den japanischen Angriff lebend überstanden hatte. Ich erinnere mich daran, dass sich der Boden unter meinen Füßen in Schlamm verwandelte, während erschöpfte Soldaten und Feuerwehrmänner versuchten, die Flammen zu löschen.

Endlich blutete der Tag in die Nacht hinüber, und noch immer sah Darwin aus, als wäre es Dantes Inferno entsprungen. Das Gebäude der Carney Cattle Company war ein glosender Aschehaufen; die Armee requirierte hastig ein Haus in der Stadtmitte, das wundersamerweise die Bomben heil überstanden hatte. Dort sammelten wir die Bürger – und die Soldaten – ein, die während des Luftangriffes umgekommen waren. Irgendwann um Mitternacht herum wurde eine weitere Bahre mit einem Leichnam durch die Tür dieses Hauses getragen, und als der Sergeant – die Augen gerötet und erschöpft vom Anblick allzu vieler vernichteter Schicksale – die Träger anfuhr, da hörte ich den Namen: „Ashley. Sarah Ashley.“

Es konnte nicht Sarah sein – einfach deswegen, weil sie vor einer Stunde in dieser improvisierten Leichenhalle angekommen war, zusammen mit einem Trupp Männer, der Postmeister Hurtle Bald und seine Familie aus den Überresten dessen gegraben hatten, was man bis dahin allgemein für den sichersten Bunker in Darwin hielt. Allerdings war er nicht sicher genug gewesen, um dem direkten Einschlag einer 250 kg-Bombe zu widerstehen, und nach einem ersten Blick in Sarahs Gesicht sorgte ich dafür, dass sie sich in einem Nebenraum auf eine Bank setzte und drückte ihr einen Becher lauwarmen Tee in die Hand.

„Was haben Sie gesagt?“ Ich hörte meine eigene Stimme, gedämpft wie durch eine dicke Schicht Wolle. Ich beugte mich über die Bahre, schlug die staubige Armeedecke zurück... und blickte auf das, was darunter lag.

„Es hat eine Verwechslung gegeben,“ sagte ich. „Das ist Cath Fletcher.“

Ich hatte gedacht, der Schrecken dieses Tages hätte mir das Herz verhärtet, doch der Verlust dieser sanften, freundlichen Frau durchbohrte es wie ein plötzlicher, weißglühender Stich.

„Oh Gott! Das ist Cath! Oh... oh...!“

Ich fuhr herum und bekam Sarah an den Schultern zu fassen, ehe sie sich über den Körper ihrer toten Freundin werfen konnte. Ihr Gesicht war leer vor Entsetzen, und eine Sekunde lang erschlaffte sie in meinem Griff, aber dann entzündete ein neuer Gedanke Leben und Verzweiflung in ihren Augen.

„Nullah! Ich muss zu Nullah!“

Natürlich. Der Krieg hatte ihr die einzige wahre Freundin geraubt, die sie in Darwin besaß; jetzt drohte ein weiterer, sogar noch fürchterlicher Verlust auf sie einzustürzen. Und ihr Junge war auf Mission Island gewesen.

„Sarah. Die Japaner haben als Erstes die Mission angegriffen.“ Ich wusste, die Wahrheit war grausam, aber Lügen waren ihr jetzt keine Hilfe. Trotzdem wehrte sie sich gegen meine Hände, nicht bereit, den letzten Rest Hoffnung aufzugeben.

„Sarah... Sarah, sehen Sie mich an!“

Endlich hielt sie still.

„Niemand kann da raus fahren. Niemand.“

Ich führte sie zurück in das andere Zimmer und ließ sie dort auf der Bank sitzend zurück, Schultern und Arme schlaff wie die einer Marionette mit durch geschnittenen Fäden. Ich weiß, ich hätte mich um sie kümmern müssen, aber noch immer kamen Leichen herein und Ordonnanzen drängten sich in den Fluren, um die Evakuierung der Überlebenden zu besprechen. Deshalb war ich gezwungen, sie allein zu lassen, und sie driftete aus dem Haus hinaus und wieder hinein wie ein Gespenst. Sie stand zwischen den Trümmern auf der Straße und starrte auf den Hafen, wo die brennenden Wracks der Barbossa und der Neptunia aus dem öligen Wasser ragten wie gestrandete, eiserne Wale. Ich sagte ihr, wir würden beim ersten Tageslicht aufbrechen und holte sie endlich aus dem Territory Hotel ab, als die Armee mit der Evakuierung derer begann, die wir hatten retten und einsammeln können.

Wir standen neben einem Pritschenwagen und Sarah wollte gerade in die Fahrerkabine steigen, als sie plötzlich erstarrte. Sie lauschte gespannt, den Mund halb offen.

„Hören Sie das? Musik... hören Sie das auch?“

Ich schwöre zu Gott, ich hörte überhaupt nichts. Ich spürte die siedende Ungeduld des Sergeants neben mir, der es nicht abwarten konnte, abzufahren, und es kostete mich Mühe, meinen eigenen Ärger zu unterdrücken. Ich hatte eine elendige Vision von mir selbst, wie ich diese starrsinnige Niobe zu einem Bündel verschnürte und sie ohne viel Federlesens in den Wagen verfrachtete. So ging das einfach nicht. „Sarah, bitte!“

„Hören Sie das nicht? Das sind Kinder, die singen!“

Langsam ging sie um den Wagen herum, den Körper gespannt wie eine Bogensehne... und plötzlich fing sie an zu rennen. Ich stand da mit sinkendem Herzen und sah zu, wie sie die halb zerstörte Pier hinunter stürmte und dabei den Trümmern und den verrenkten Leichen auf ihrem Weg mühelos auswich. Rauchwolken drifteten quer über das Hafen und verbargen ihre schlanke Gestalt meinem Blick. Ich wusste, ich musste sie zurückbringen, ich wusste, die Zeit wurde knapp... ich schluckte einen Fluch hinunter und lief ihr nach.

Ich hatte das Ende der Pier fast erreicht, als ich dachte, ich würde sie sehen. „Sarah, was ist los? Ich kann den Sergeant nicht länger aufhalten!“

Es stimmte, ich hatte Sarah Ashley gefunden... und sie war nicht allein. Sie stand in der engen Umarmung eines Mannes, klammerte sich an ihn wie eine Ertrinkende und hielt gleichzeitig ein Kind fest an sich gedrückt.

Nullah... und der Drover.

Ich starrte sie alle an, außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen. In diesem Moment wäre ich nicht überrascht gewesen, wenn der Mann vor mir Flügel getragen hätte, mit denen er zur Rettung des Jungen herbei geflogen war, und zur Wiedervereinigung mit der Frau, die er liebte. Dies war nichts weniger als ein ausgemachtes Wunder, und dabei Zeuge zu sein verschlug mir den Atem. Nur blieb dies nicht die letzte Offenbarung... aus dem Rauch schälte sich die dünne Gestalt eines jungen Mannes in staubiger Priestersoutane, und dann...

Gesichter. Kleine, strahlende Gesichter und bloße Füße, die auf die Holzplanken der Pier trommelten. Leuchtende Augen und schrilles, freudiges Gelächter, und plötzlich verstand ich das ganze Ausmaß des Wunders, das mit anzusehen mir geschenkt worden war.

Oh mein Gott. Die Kinder aus der Mission.

Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, und dieses Mal schämte ich mich nicht. Nach dem grausamen Tag, der dem Luftangriff gefolgt war, fühlte sich dieser großartige Augenblick an wie himmlischer Trost und göttlicher Segen gleichzeitig.

Binnen weniger, turbulenter Minuten waren die Kleinen wie eine Herde eifriger Lämmer eingesammelt und auf den Pritschenwagen verladen. Ich wusste, ich musste mit ihnen gehen, und zwar sofort, aber ich brachte es nicht fertig, mich von Sarah und dem Drover abzuwenden. Ihr Gesicht war an seine Schulter gedrückt, und seine Hände hielten sie wie den kostbarsten Schatz. Er hielt die Augen geschlossen; ich schaute ihn an und wusste, dass ich einen Mann sah, der sich seinen Weg zur Hölle und wieder zurück erkämpft hatte, der verloren war und wiedergefunden, verflucht und erlöst... und der demütig die zweite Chance annahm, die ihm geschenkt wurde.

„Als ich sagte, niemand kann da raus fahren, hatte ich natürlich nicht an Sie gedacht, Drover,“ bemerkte ich mit einem Lächeln.

„Is' nich' wichtig,“ warf Nullah ein, wandte sich mir zu und lachte mich strahlend an. „Wir geh'n zurück nach Faraway Downs!“

Er hatte Recht. Es konnte keinen Gedanken daran geben, dieses Kind noch einmal denen zu entreißen, die es liebten. Ich würde ganz sicher nicht derjenige sein, der das tat.

„Ja, eine gute Idee,“ gab ich zurück und suchte den Blick des Drovers. „Das ist der sicherste Ort im Norden während der Regenzeit. Immerhin handelt es sich hier um...“

„... außergewöhnliche Umstände,“ sagte der Drover leise. Es war der stille Salut von einem Ritter zum anderen, und ich beantwortete ihn mit einer kleinen Verbeugung.

„Danke, Emmet,“ flüsterte Sarah. Ihre Wangen waren tränennass und rußverschmiert, und sie war unfassbar schön.

Mit Mühe wandte ich mich ab und ging zu dem Pritschenwagen hinüber. Der junge Priester, der mit den Kindern gekommen war, half mir auf die Ladefläche hinauf, und ein paar Minuten später rumpelte der Wagen davon. Ich starrte zur Pier zurück; ich konnte sie nicht länger sehen, aber der letzte Anblick von Sarah und denen, die sie liebte, war so deutlich in mein Gedächtnis eingegraben wie eine Photographie, und er blieb selbst dann noch bei mir, als wir die zerstörte Stadt verließen und uns nach Süden wandten.

*****

Mehr als vierzig Jahre sind seit der Bombardierung von Darwin vergangen. Das Echo längst vergangener Schlachten ist in meinem Gedächtnis zu einem weit entfernten Gemurmel verklungen, kaum hörbar gegen die vielstimmige Melodie meines Lebens.

Nur sechs Monate nach der Katastrophe von Darwin beförderte mich die Armee zum Major und versetzte mich nach Palästina; die Probleme im Nördlichen Territorium zu lösen war nichts gewesen gegen das, was mich auf diesem unheiligen Pulverfass erwartete. Ich blieb in der Wüste, bis der Staat Israel 1948 wundersamerweise das Licht der Welt erblickte, dann nahm ich meinen Dienst in Deutschland auf, wo ich als Verbindungsoffizier zu den amerikanischen Truppen arbeitete. 1964 ging ich in den Ruhestand und kehrte endlich nach England zurück, wo meine Familie geduldig darauf gewartet hatte, dass ich nach Hause kam.

Selbstverständlich hätte ich darum bitten können, meine Dienstzeit in Australien zu beenden, aber ich habe es nie getan. Bis zum heutigen Tag kann ich nicht mit Sicherheit sagen, weshalb ich mich entschied, fort zu gehen, und jedes Mal, wenn eine kleine Stimme in meinem Hinterkopf damit anfängt, unbequeme Fragen zu stellen, bringe ich sie entschlossen zum Schweigen, ehe sie zu lästig wird.

War es das „grünäugige Ungeheuer“, das Timms Abberly an jenem Abend auf dem Ball in Darwin angesprochen hatte? Ich habe ihn jetzt mehr als dreißig Jahre nicht mehr gesehen; er überlebte den Luftangriff und eröffnete eine neue Rechtsanwaltspraxis in Sydney. In all unseren Briefen – über die Jahre waren es mehr als sechshundert – wurde Sarah Ashley auch nicht ein einziges Mal erwähnt. Ich hätte ihn natürlich nach ihr fragen können... es wäre ihm ein Leichtes gewesen, heraus zu finden, ob Faraway Downs noch immer blühte und gedieh, oder ob es das Schicksal so mancher Station teilte, die nicht imstande war, die schwierigen Jahre nach dem zweiten Weltkrieg zu überleben.

Ich habe ihn nie gefragt.

Aber ich erinnere mich an sie. Natürlich tue ich das. Ich erinnere mich an die kultivierte Dame, an die wagemutige Amazone, die fünfzehnhundert Stück Vieh nach Darwin brachte, als die Armee sie brauchte. Ich erinnere mich an die Frau, die mich auf die Wange küsste, als ich kaum einen Monat vor Pearl Harbor auf der Station ankam, die Frau, die mich am Vorabend von Darwins bitterer Feuertaufe im Februar 1942 ein letztes Mal küsste, mitten auf den Mund. Aber das stärkste Bild ist noch immer das letzte, das ich je von ihr hatte... an den Drover geschmiegt, das Kind in ihren Armen.

Ich bin nun wirklich alt. Meine Knochen sind zerbrechlich geworden und mein Körper schwach, und der Arzt hat mich auf eine Diät gesetzt, die mir verbietet, irgendetwas Stärkeres zu trinken als gelegentlich einen Sherry. Ich bin nun alt, und ich bin müde. In letzter Zeit schlafe ich ziemlich viel.

Letzte Nacht hatte ich einen Traum... ich sah verblüffend deutlich Sarahs Gesicht, und es raubte mir den Atem, genau so wie beim allerersten Mal, als ich durch das Fernrohr von Gouverneur Allsop schaute und sie entdeckte. Ihre Augen lächelten mich an... und für eine flüchtige Sekunde vernahm ich, was sie an jenem Tag gehört haben muss, als das Schicksal ihr die zurück gab, die sie am meisten liebte. Da war der sanfte Klang einer Mundharmonika und die Stimmen von Kindern in einen süßen Chorgesang, der sich mit der führenden Melodie vermischte und mit den Rauchwolken über dem Hafen von Darwin verwehte.

Ich erwachte an einem kühlen, regnerischen Morgen in England, ihren Namen auf den Lippen.

„Sarah, mein Liebling...“

FINIS

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Anmerkungen der Autorin:

Die Verse, die „Timms“ Abberly auf dem Ball zitiert, stammen aus Shakespeares Othello. Und da Regisseur Baz Luhrman sich bei den historischen Details über die Bombardierung von Darwin so viele Freiheiten herausgenommen hat, habe ich seiner Beschreibung einige Fakten hinzu gefügt, die dem hochinteressanten Buch An Awkward Truth: The bombing of Darwin in February 1942 von Peter Grose entnommen sind. Es ist übrigens meiner guten Freundin Pearlette zu verdanken, dass Emmet Dutton im englischen Original dieser Geschichte tatsächlich so spricht und klingt wie ein britischer Aristokrat. Sie hat Erinnerungen an Sarah betagelesen.

Albion – klassische Bezeichnung von England

Pariah - Ausgestoßener (aus dem Indischen: kastenlos)

Kittyhawk – britisches Jagdflugzeug

Niederländisch Ostindien – das heutige Indonesien

Niobe – Königin aus der griechischen Sage, die vor Schmerz über ihre toten Kinder zu Stein erstarrte und selbst in dieser versteinerten Form noch Tränen vergoss.


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